Dass das Buch von Günther Pöltner „Evolutionäre Vernunft“ in diese Kerbe schlägt wurde mir aufgrund seines Forschungsschwerpunktes „Christliche Philosophie“ alsbald klar: Ich hätte mich vorher über den Werdegang und die Bücher (z. B. „Theologie und Ästhetik“) des Autors informieren und damit das Lesen dieses recht unerquicklichen Machwerkes ersparen sollen. Es lohnt sich auch kaum, über seine Ausführungen Worte zu verlieren, wenngleich sie in mancher Hinsicht paradigmatisch sind: So etwa im Aufweis eines vorgeblichen Zirkels der EE, den schon andere Philosophen glaubten monieren zu müssen. Das klingt bei Pöltner wie folgt: „Soll eine Anpassung erfolgen, die zu ihrem Resultat eine Passung hat (= Passung 1), so muß zuvor dasjenige irgendwie erfaßt sein, woran die Anpassung erfolgen soll. Und hier scheitert die EE. Denn nach ihren Prämissen ist für diese Erfassen wiederum eine Passung (No 2) vorauszusetzen. Damit ist aber die Erkenntnismöglichkeit nicht erklärt, weil Anpassung Passung bereits voraussetzt.“ Worauf er meint schließen zu können, dass es sich hier um einen vitiösen Zirkel oder aber einen unendlichen Regress handle.
Nun handelt es sich aber keineswegs um eine Prämisse der EE, dass jedes Erfassen eine Passung voraussetzt. Wenn nicht unter dieser Passung verstanden wird, dass es sich bei zwei diskreten Einheiten, die miteinander interagieren, um Strukturen handelt, die einen vergleichbaren atomar-molekularen Aufbau haben und den gleichen physikalisch-chemischen Gesetzen gehorchen. Denn das ist tatsächlich die Voraussetzung: Die bedeutet, dass lebende Zellen und ihre Umwelt sich nicht essentiell voneinander unterscheiden. Jegliche Art von Aktion führt zu einer Reaktion (das ist bereits bei der abiogenen Synthese von Lebensbausteinen der Fall), es gibt Rückkoppelungseffekte und dies setzt sich nach Bildung von Probionten und Eukaryoten fort. Die EE behauptet nichts anderes, als dass auf diese Weise der Interaktion von Lebewesen mit ihrer Umwelt dieselbe teilweise erkannt wird und dass diese Lebewesen Mechanismen ausbilden, die ihrem Fortkommen dienen (etwa im Aufspüren chemischer Stoffe oder der Orientierung an der Sonneneinstrahlung). Es erfolgt eine sukzessive Verbesserung dieser Mechanismen der Anpassung (diejenigen, denen eine solche Anpassung nicht gelungen ist, dürften nicht als Vorfahren für die mit der EE befassten Primaten in Frage kommen), eine Anpassung, deren Grundlagen von der Evolutionstheorie beschrieben werden. Und selbstverständlich ist alles (von den Sinnesorganen bis zu unseren kognitiven Fähigkeiten) auf diese Weise entstanden, wenn man nicht auf supernaturalistische Annahmen zurückgreifen will (was bei Pöltner der Fall sein dürfte). Aufgrund der konstatierten Wechselwirkung zwischen Lebenseinheit und Umwelt behauptet die EE, dass unser Bild von der Welt nicht ganz falsch sein kann und dass die von manchen Philosophen aufgeworfene Frage, warum denn Erkenntnis möglich ist, eine einfache Anwort findet: Weil wir als erkennende Wesen ein Teil dieser Welt sind und uns mit dieser Welt entwickelt haben. Die „Prämisse“ besteht darin, dass Leben und Umgebung strukturähnlich sind und dadurch in Wechselwirkung treten können. Für die Lebensbausteine war es essentiell, durch Rückkoppelungseffekte erste Orientierungshilfen zu entwickeln, ob man das (mit Vollmer) als einen „virtuosen Zirkel“ bezeichnen will oder es bei einer Beschreibung von physikalisch-chemischen Aktionen und Reaktionen (die verstärkend oder abschwächend wirken können) belassen soll ist Ansichtssache.
Wir erkennen die Welt durch Versuch und Irrtum: Und wir erkennen sie in einem überlebensrelevanten Ausmaß. Das aber ist hinwiederum ausreichend, es bedarf keiner absoluten Wahrheit in dieser Erkenntnis (um zu überleben), im Gegenteil: Sinne und Vernunft müssen aus der Vielfalt der Eindrücke die relevanten Daten aussondern und das restliche Datenmaterial ignorieren. Was denn auch die Fehlleistungen und zahllosen Ungenauigkeiten unserer Sinne erklärt: Ein genauerer Weltbildapparat würde den Aufwand nicht lohnen. Auch diese Fehlleistung bleiben Pörtner ein Rätsel: Zum einen moniert er die naturwissenschaftliche Methodik, die der Vernunft nicht adäquat sei (allerdings sagt er nicht, welche Methodik ihm vorschwebt), zum anderen werde nicht gesagt, „woher der Maßstab für die Feststellung der Mangelhaftigkeit der Vernunft“ stammt. Damit in Zusammenhang steht der häufig erhobene Vorwurf, dass die EE nicht erklären könne, wie es überhaupt zu Wissenschaft kommen kann (denn diese Wissenschaft bildet den Maßstab für die Beurteilung unserer Fehlleistungen, indem sie eine Metaebene schafft).
Dabei wird der Begriff „Wissenschaft“ nicht definiert, sondern das angeblich aus der EE nicht erklärbare Faktum der Quantenphysik (oder einer anderen hochspezialisierten Wissenschaft) konstatiert. Sobald man sich aber die Frage stellt, was denn Wissenschaft überhaupt ist, lösen sich derartige Problem in nichts auf: Ivan Rozanskiy etwa stellt in seiner „Geschichte der antiken Wissenschaft“ diese Frage und unterscheidet zwei Extrempositionen: Eine, die die Wissenschaft erst mit dem 17. Jahrhundert beginnen lässt (die also Mathematik und Experiment für konstituierend hält) und eine andere, die die elementaren Beschäftigungen mit unserer Umwelt bereits als prä-wissenschaftlich bezeichnet (also auch den Erwerb von Kenntnissen in Bezug auf Jagd, Fischfang oder Landwirtschaft). Ohne hier genauer Stellung beziehen zu wollen (denn eine Nominaldefinition würde nichts erklären) ist dadurch die Evolution von Wissenschaft skizziert: Der Mensch erwarb über große Zeiträume zunehmend bessere Kenntnisse über seine Umwelt, Kenntnisse, die manchmal auch den eigenen Sinnen zuwiderliefen. Diese der Vernunft zu verdankende Metaebene hat (wenigsten bislang) offenkundig einen überlebenstechnischen Mehrwert (weshalb es über 7 Milliarden Menschen gibt) – und diese Fähigkeit, eine Metaposition einzunehmen, ist einem evolutionär entstandenem Primatengehirn zu verdanken. Warum ausgerechnet hier auf naturwissenschaftliche Methodik verzichtet werden soll bleibt unerfindlich: Wenn man denn nicht die Vernunft (oder unsere „Seele“, was auch immer das sein soll) als der Evolution entzogene Phänomene betrachten will.
Ähnlich kurios ist auch das „Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie“ von Bernhard Irrgang zu lesen: Wobei hier die Bezeichnung „Lehrbuch“ für besondere Verwirrung sorgt. Ein solches dient eigentlich dazu, den rezenten Wissensstand zu referieren und dem Leser (oder auch Lernenden) nahezubringen. Irrgang aber hält seine eigene Sicht der Dinge für den Wissensstand und hat auch noch die Chuzpe, diese seine Ansichten über „Kontrollfragen“ am Ende der Kapitel zur verbindlichen Wahrheit zu erklären. Was Irrgang unter anderem umtreibt (wobei schon in der Einleitung klar wird, dass er die Position von Konrad Lorenz oder Rupert Riedl nicht ansatzweise verstanden hat) ist das Ärgernis über eine heute nicht mehr vertretbare Letztbegründung: So kritisiert er Hans Albert für sein Münchhausentrilemma, das etwa vom elenktischen Beweisverfahren völlig absehen würde. Dieses besteht darin, seinen Gegner zu widerlegen, indem man ihm etwa nachweist, dass er bestimmte logisch-argumentative Strukturen bereits voraussetzt (wodurch diese nicht bestritten werden können). Denn selbstverständlich setzen Urteile bestimmte Begriffe voraus, so etwa den Begriff der Wahrheit oder den des Widerspruches. Diese Voraussetzungen selbst sind (innerhalb einer der Logik verhafteten Argumentation) aber eben genau das – nämlich Voraussetzungen, sie sind nicht wahr, weil der Begriff der Wahrheit die Akzeptanz der Begriffe voraussetzt. Über diese Wahrheit kann nur wieder metasprachlich gesprochen werden. All das hat mit Alberts Münchhausen-Trilemma so gut wie gar nichts zu tun: Denn bei ihm ist von Urteilen die Rede und deren Begründungmöglichkeiten, nicht von der ihnen zugrunde liegenden Logik. Und da die EE sich als empirische Theorie begreift und sich im Rahmen des Kritischen Rationalismus auf die immer bestehende Möglichkeit einer Falsifikation beruft, gilt für sie (wie für alle Theorien, die etwas über die Welt auszusagen beabsichtigen) Alberts Trilemma uneingeschränkt.
Aber das gefällt Irrgang nicht: Er beruft sich auf Descartes und stellt fest, dass „die Auffassung, daß alles faktische Wissen hypothetisch ist, gemäß der Erfahrungsanalyse des methodischen Zweifels falsch ist. Das cogito = sum ist ein faktisches Wissen, das bewiesen und unbezweifelbar ist.“ Und dieser Satz stellt nach Irrgangs Ansicht einen synthetischen Satz dar, da rein analytisch aus dem Begriff des Denkens nicht der Begriff des Seiend-Seins folgt. Tatsächlich folgt aus Descartes Satz das alles ohnehin nicht. Denn übersetzt sagt der Satz nichts anderes, als dass es irgendein x gibt, das denkt. Das Sein, das Irrgang hier folgen lassen will, ist kein Prädikat, wenn aber der Satz als wahr angenommen wird (es gibt irgendein x, das denkt, sich bewegt etc.), dann ist das ein analytischer Satz in Reinkultur. Denn wie die Aussage des sich Bewegens, impliziert, dass es ein Bewegendes gibt (was soll sich sonst bewegen, gäbe es ein solches nicht, könnte keine Bewegung konstatiert werden), folgt dies auch aus dem cogito. Die Existenz ist keine Folgerung, sondern die Voraussetzung für einen Satz der Art es gibt ein x, von dem y ausgesagt werden kann, wenn dieser Satz Wahrheit beansprucht.
Aus diesen wenigen Beispielen (die leicht vermehrt werden könnten) spricht ein verletzter Philosophenstolz: Da beschäftigt man sich mit Systemen, ontologischen Finessen und Beweisverfahren, um schließlich zum einen feststellen zu müssen, das wir nichts (sicher) wissen können – und zum anderen, dass eine Philosophie, eine Epistemologie ohne wissenschaftlichen Hintergrund, ohne den Bezug auf das evolutionäre Gewordensein unserer Vernunft ein völlig fruchtloses Gedankenspiel ist. Man träumt offenbar noch von den goldenen Zeiten des Deutschen Idealismus: Wo man sich die abstrusesten Systeme erfinden konnte und dafür höchste Anerkennung erfuhr (und wer den Weltgeist mit dem Beduinengott gleichsetzte wurde auch christlicherseits hochgelobt). Man kann nur hoffen, dass diese Zeit wirklich vorüber ist: Pöltner und Irrgang sind aufgrund ihres Alters in jedem Fall Geschichte. Wes Geistes Kind Pöltner ist sei abschließend mit einem Zitat belegt: „Vom Wirklichkeitsganzen kann es keine Entstehungsgeschichte mehr geben. Jede Entstehung von etwas aus etwas – sei es auf dem Weg von Mutation, Selektion oder was auch immer – setzt das überhaupt Sein-Können von etwas voraus. Wer es anders meint, hat das Problem noch nicht verstanden. Schöpfungstheologie ist weder eine primitive Vorstufe noch eine Konkurrenzveranstaltung der Evolutionstheorie. Dass für eine Evolutionstheorie Gott als Erklärungsinstanz überflüssig ist, ist ja nur ein anderer Ausdruck ihres methodischen Reduktionismus.“ Das sind die höchst peinlichen Ergüsse eines alten Mannes, dem man den Gott seiner Kindheit gestohlen hat. RIP.
*) Es folgt daraus aber nichts für das „ich“, wie Descartes gemeint hatte. Und ganz nebenher bemerkt ist sein täuschender genius malignus ein äußerst simples Teufelchen: Wäre dieser nämlich so geschickt im Täuschen, so würde er es ganz einfach so einrichten, dass der gute Rene das nicht merkt, denn für einen solch allmächtigen Geist wäre es wohl ein leichtes, ihm die Täuschung zu verbergen. Und weiter: Wenn Descartes behauptet, dass ein gütiger Gott uns nicht täuschen könne – wäre es nicht ein genialer Schachzug vom bösen Geist, ihn (Descartes) an einen solchen Gott glauben zu lassen? Usf. Natürlich ist der Sinn und Zweck von Descartes Spielereien ein ganz anderer: Er hat ganz offenbar diesen lieben Gott von vornherein im Auge gehabt, einen, der für die Realität bürgt.
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