Hanna Scotti: Sissipha oder die alte Närrin

Vermutlich existiert in den Weiten des Internet ein Mehrfaches an Blogs, in denen die Leute eigene Gedichte vorstellen, als Blogs, in denen nur oder hauptsächlich Gedichte besprochen werden. Zu diesem Buch war ursprünglich einmal eine sog. ‚Blogtour‘ angedacht gewesen, die mangels Interesse nicht zustande kam. Selbst aus dem professionellen Feuilleton verschwindet Lyrik immer mehr, will mir scheinen. Und auch hier bei uns fristet sie ein Mauerblümchen-Dasein.

Hanna Scottis Buch ist 2014 im Geest-Verlag in Vechta erschienen. In einer kurzen Selbstbeschreibung am Ende des schmalen Bändchens spricht sie davon, dass sie [v]om experimentellen Aufbruch der Literatur Nachkriegsdeutschlands inspiriert sei, afrikanische Einflüsse macht sie geltend, asiatisches Zen, [d]en zeitgenössischen Lyrikern der Sechziger- und Siebzigerjahre, davon ganz besonders Rolf Dieter Brinkmann, fühlt sie sich verbunden. Diese Einflüsse – jedenfalls, was die deutsche Lyrik betrifft, über Afrika und Asien weiss ich zu wenig, um das beurteilen zu können – lassen sich tatsächlich an Sprache und Form der Gedichte von Hanna Scotti deutlich erkennen. Paul Celans Sprachduktus zum Beispiel ist klar zu erkennen. Dort, wo sie offen Georg Kreisler paraphrasiert, ist auch Kreislers lyrischer Ziehvater, Ernst Jandl, hörbar – aber nicht nur dort. Zu Brinkmann kann ich nichts sagen; der hat sich früh aus dem Literaturbetrieb zurück gezogen, und ist mir deshalb aus dem Blickfeld entschwunden.

All diese Vergleiche sind sowieso gefährlich. Die Gediche eines Jandl, eines Celan, übertreffen die von Hanna Scotti immens. Frau Scotti kann bei solchen Vergleichen nur verlieren. Lassen wir sie also, und sehen, was das schmale Bändchen liefert.

Hanna Scottis Themen sind das Alter und der Tod. Beides sind Tabu-Themen in der heutigen Zeit – wir haben mit der mittelalterlichen Rückbindung an die Religion zugleich deren Wertschätzung des Alters und deren Einstellung zum Tod verloren. Dass wir Hoffnung und Angst verloren haben (weder das Jüngste Gericht noch die Ewige Verdammnis schrecken uns mehr gross), darum ist es nicht schade. Aber heute ist Alter ein Stigma, und der Tod wird verdrängt. Radio und TV bemessen die Einschaltquote, ihr A und O, anhand der Daten einer Altersgruppe, die bei 49 aufhört; und in Deutschland will man gerade verbieten, dass Schwerstkranken geholfen werden kann, einen selbstbestimmten und würdevollen Tod zu wählen. Die Alterspyramide, die eben keine Pyramide mehr ist, gehört zum Standard-Schreckensszenario eines jeden Familienpolitikers. (Dass man das Ganze auch anders interpretieren könnte, hat Peter Gross in verschiedenen Schriften aufgezeigt.)

Dagegen setzt Hanna Scotti ein Gegengewicht. Dabei setzt sie nicht nur auf die lustigen und lebensfreudigen Alten, wie man das so oft und gern tut. In ihren Gedichten sind auch Melancholie, Resignation – und Angst. Der Alte schnarcht nun mal die ganze Nacht und lässt seine Frau im wahrsten Sinne des Worts links liegen. Autoritäten misstraut Hanna Scotti aus Prinzip. Dem Macho Nietzsche setzt das lyrische Ich sein Frau-Sein entgegen, haut Descartes in die Pfanne und setzt sich als Tilly Eulenspiegelin in einer Tonne auf den Marktplatz. Handkehrum erleben wir – z.B. in Todesfuge (für Christa Wolf) – wie das lyrische Ich verstummt: Angesichts des Todes bleibt nur ein Bild, keine Worte mehr. Sissipha ist nicht nur die alte Närrin, der Clown. Sie ist auch Sisyphos, der vergebens versucht, seinen Stein den Hang hinauf zu rollen. (Ob Hanna Scotti Camus‘ Interpretation des Mythos des Sisyphos kennt, weiss ich nicht.) Sie ist aber auch Sissi, Elisabeth von Österreich-Ungarn, die sich selber ‚Sisi‘ schrieb, und die dem Altern durch Hungern und durch Sport zu entkommen suchte.

Auf dem Titelblatt heisst das Büchlein Sissipha oder die alte Närrin … und in allem wohnt die Liebe … Die Gedichte selber entpuppen sich dann als nicht so esoterisch, wie der Untertitel befürchten lässt. Im Übrigen sind in diesem schmalen Bändchen (knapp über 100 Seiten) neben den Gedichten auch Fotografien von Wiebke Plett zu finden: Grossaufnahmen alten Frauen (Kopfhaar, Nacken, Schultern). Diese Fotografien verströmen eine ähnlich herbe Stimmung wie die Gedichte von Hanna Scotti und ergänzen diese aufs Beste. Gesetzt und editiert ist das Bänchen auch sonst sehr sorgfältig.

Alles in allem ist Sissipha oder die alte Närrin ein Büchlein, das zwar sicher nicht zur ganz grossen Lyrik zählt, aber durchaus zur kleinen (über die so häufigen lyrischen Ergüsse in Herz-Schmerz-Manier, also das Niveau von Schlagertexten und schmachtenden jungen Damen und Herren von 50 ist Scottis Lyrik sowieso noch allemal zu stellen). Über Hanna Scottis Themen wird man hoffentlich noch lange nachdenken.

1 Reply to “Hanna Scotti: Sissipha oder die alte Närrin”

  1. Ganz herzlichen Dank für diese präzise und ausführliche Rezension.
    Ich fühle mich als Autorin mit diesen Einschätzungen sehr wohl.
    Gerne schreibe ich „kleine“ Literatur, wie Sie es nennen.
    Ich bin eben „Sissipha“ mit ss
    mit einem Lächeln am Fuße der Leiter…

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