Die Gnosis entstand um das Jahr 0 als eine Gegenbewegung zu einem immer stärker dogmatisch werdenden Judentum (erste Bewegungen waren die Mandäer und die Sethianer, die sich von Seth, dem dritten Sohn Evas herleiten). In ihren Grundzügen ist sie dualistisch: Einem als ideal geistig gedachten Gottwesen steht die als sündhaft empfundene Welt gegenüber, wobei die Seelen der Menschen als in dieser körperlichen Welt gefangen angeseen werden und sich wieder mit der göttlichen Geistigkeit zu vereinigen suchen. Warum es aber zu einem solchen Abfall gekommen ist, ob dem zumeist als „Vater“ bezeichneten vergeistigtem Gottwesen schon immer ein materiales, böses Prinzip gegenübergestanden hat oder ob diese Welt durch ein Fehlverhalten von göttlichen gedachten Äonen (die zumeist als Emanationen des Gottvaters gedacht werden) in die Wirklichkeit eingetreten ist, wird von den verschiedenen Gruppierungen entsprechend ihrer Mythen verschieden beantwortet.
Bis etwa 300 n. u. Z. sind die verschiedenen gnostischen Strömungen als Konkurrenzsekten zum Christentum aufgetreten, wobei das Christentum (vor allem durch Augustinus, der in seiner Jugend Manichäer war) vieles aus dem gnostischen Gedankengut aufgenommen hat: Insbesondere die Einstellung zur materiellen Welt und vor allem die zur Sexualität. Die wahrscheinlich größte gnostische Strömung, der erwähnte Manichäismus, der sich aus einer Elechaitengemeinde (eine Art Täufergemeinschaft) entwickelt hat, wurde aufgrund ihrer strengen inneren Organisation zu einer gefährlichen Konkurrentin für das Christentum, wobei die Manichäer im Westen zu großen Teilen in die christliche Gemeinschaft integriert, ansonsten (vor allem im östlichen Herrschaftsgebiet) verfolgt und schließlich weitgehend ausgerottet wurden. Allerdings haben sich Reste dieses Denkens in den Bewegungen der Bogomilen und – von diesen ausgehend – auch der der Katharer erhalten und haben im 13. Jahrhundert (durch die Krise innerhalb der kirchlichen Hierarchie) vor allem in Südfrankreich großen Einfluss erlangt. Mit der Einverleibung der Bettelorden in die kirchliche Organisation wurden aber diese Bewegungen weitgehend neutralisiert, einzig in abgelegenen Gebieten der Alpen haben sich einige Gemeinden erhalten.
In kurzen Kapiteln beschäftigt sich die Autorin auch noch mit dem gnostischen Einfluss auf Islam und Judentum bzw. auf esoterische Strömungen im 20. Jahrhundert (insbesondere Lanz von Liebenfels, der sich über seine Beschäftigung mit dem Templerorden gnostischen Überlegungen angenähert hat, ist über den Nationalsozialismus durch eine von diesem absorbierte, abstruse Rassenlehre zu einiger Bedeutung gelangt). Während die innerjüdischen gnostischen Ansätze durch die Kabbalistik weitgehend aufgesogen wurden, hat sich der gnostische Einfluss im Islam in schiitischen, stärker noch in ismaelitischen Sekten (die allerdings einer rigiden Verfolgung ausgesetzt waren) oder bei den Drusen über ein explizit eschatologisches Gedankengut erhalten.
Interessant wäre es, die rezenten esoterischen Bewegungen auf ihre gnostischen Wurzeln zu untersuchen: Da die dualistische Weltanschauung nach wie vor sehr populär ist und weil der Gegensatz von Gut und Böse in fast jedem Zusammenhang verwendbar scheint, würde es nicht überraschen, derartige Verbindungen zu entdecken (ich könnte diesbezüglich Feldforschung betreiben bei meinem von Engeln und Dämonen, in der Gnosis häufig auftretenden Geistwesen, inspirierten Nachbarn). Auch wenn das Buch manchmal mit einer Überfülle an Informationen den Leser fast überfordert (gelungen sind die graphischen Darstellungen der verschiedenen gnostischen Systeme, die ansonsten kaum noch verständlich wären), stellt es doch eine ausgezeichnete – und über weite Teile – sehr lesbare Zusammenfassung dieses Denkens dar. Für meinen Geschmack hätte es noch eine Analyse des Einflusses auf den Neuplatonismus bzw. auf die Philosophie im allgemeinen geben können: Das Fehlen solcher Untersuchungen könnte auch dem geringen Umfang dieser Serie geschuldet sein.
Julia Iwersen: Gnosis. Hamburg: Junius 2001.