Heute hat mich die Abenteuerlust gepackt. Ich habe mir eine Tageskarte der Leipziger Verkehrsbetriebe gekauft und bin mit der Strassenbahn ins Zentrum von Leipzig gefahren. Ja, diese Abenteuerlust ritt mich sogar derart, dass ich vom Markt zum Hauptbahnhof mit der S-Bahn gefahren bin (die dort eher eine U-Bahn ist). Dann habe ich den Hauptbahnhof besichtigt. (Ich liebe Bahnhöfe. Habe ich das schon mal gesagt? Ach ja – habe ich.) Der Leipziger Bahnhof sieht von aussen so aus wie ungefähr alle Bahnhöfe grösserer Städte aus der Gründerzeit. Von innen findet man allerdings – ebenfalls wie in allen noch bestehenden Bahnhöfen aus der Gründerzeit – die Bausubstanz völlig ausgehöhlt und mit den üblichen internationalen Schnell-Futter-Ketten gefüllt. Weshalb ich denn auch bald wieder zu Fuss zurück zum Markt marschierte. Dort, gut eingepackt, draussen zwei Kaffee getrunken, dann die Antiquariate der Altstadt abgegrast. Ich habe, was ich suchte, nicht gefunden. Die Antiquariats-Mitarbeiter in Leipzig verdienen für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden auch nicht unbedingt eine Medaille. Ich störte sie wohl beim Katalogisieren oder Inventur machen. Dafür bin ich – ganz allein – über die 1965er Ausgabe (Reclam-Ost) des hier erwähnten Bellamy gestolpert. Der geneigte Leser wird sich also früher oder später damit konfrontiert finden. Beim Mittagessen wurde ich ausnahmsweise meiner Maxime untreu, auf Reisen nur einheimische Kost zu mir zu nehmen, und gönnte mir in der Nähe von Auerbachs Keller ein Thai Curry. Es war allerdings die kleine Sünde wert.
Dann ein weiterer Abenteuer-Trip mit der Strassenbahn zum Messezentrum. Warum haben die Leipziger Strassenbahnen Sitze für 1½ Menschen statt für einen oder zwei ganze? Ich habe mich in der schon ziemlich vollen Strassenbahn neben eine nicht mehr ganz so junge Dame gequetscht, und ich glaube, es war ihr ebenso unangenehm, den Trip Oberschenkel an Oberschenkel mit einem Fremden machen zu müssen, wie mir. Dafür schlief mir auf der andern Seite das Bein ein. Im Messezentrum die Akkreditierung erledigt und nebenbei festgestellt, dass die Gebäude immer noch am selben Ort stehen.
Nach einem kleinen Imbiss (ein sagenhaftes Thunfisch-Tartar mit einem Zweier Weisswein aus Halle [so hab ich’s jedenfalls begriffen; vielleicht war auch nur der Weinhändler von dort; der Weimarer Weisswein, der vor der Tür noch ausgepriesen wurde, war leider schon aus – ich hätte so was gerne mal probiert, besonders, weil ich heute meinen abenteuerlichen Tag hatte], Hallener Weisswein also, der ein wenig wie Retsina schmeckte [so was mag man oder nicht; ich mag es eigentlich noch ganz gern]) ging dann endlich die Leipziger Buchmesse 2016 los: Eröffnungsfeier.
Diese fand im Gewandhaus statt. Kurz nach 18.00 Uhr war Einlass. Vorher aber drückte mir in einer Art Guerilla-Marketing-Aktion eine junge Frau mit eurasischen Wurzeln ein Buch in die Finger: Ich heiße Europa von Alexander Cern. Herr Cern wird damit rechnen müssen, sich in diesem Blog wiederzufinden.
Den Bloggern als den minderen Pressevertretern waren offenbar die Plätze auf der Seitenempore zugedacht. Ich setzte mich in die erste Reihe. Wenn schon, denn schon. Zu meiner Linken war zunächst ein älterer Herr, der mich plötzlich fragte: „Meinen Sie nicht, dass von weiter oben die Sicht besser ist?“ Ich wusste es nicht, es war mir eigentlich auch egal. Ich weiss, wie ein Orchester aussieht. Mein Sohn ist Orchestermusiker. Und ich will ein Orchester im Grunde genommen nur hören, nicht sehen. Es gibt kaum Dinge, die weniger unfreiwillig komisch aussehen, wie ein herumfuchtelnder Orchesterdirigent – ausser vielleicht herumfuchtelnde Geigen und Bratschen.
Die Eröffnung – und gleichzeitig Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2016 an den Historiker Heinrich August Winkler – stand ganz im Zeichen des Aufwärtstrends rassistisch-xenophober Tendenzen in Europa und in der BRD. Alle vier Referenten versuchten, Zeichen dagegen zu setzen. Ob das mehr als nett gemeinte Erklärungen unter gleichgesinnten Intellektuellen sind, wage ich zu bezweifeln – aber der gute Wille war da. Die Musik war zwar nicht revolutionär ausgewählt, aber ausgezeichnet gespielt. Es zeigte sich, dass das Gewandhaus-Orchester zu Recht zu den weltbesten Orchestern gezählt wird. Die Tenöre und Soprane, die mit dem Orchester auftreten durften, kann ich nicht beurteilen. Da sie praktisch mit dem Rücken zu mir standen und in die entgegen gesetzte Richtung sangen, klangen sie auf meiner Seite ein wenig hohl.
Zum Abschluss die obligate Schlacht am kalten Buffet. Für mich war sie relativ rasch beendet. Nicht nur, weil der Weisswein, der dort serviert wurde, sogar für mich zu sauer war (nach zwei Schlucken stellte ich das Glas hin und verabschiedete mich französisch): Die Pflicht in Form dieses nun fertigen Aperçus rief mich von dannen.
PS. An die Messeleitung: In Bezug aufs Wetter war das mit der Sonne heute schon ein grosser Fortschritt. Aber das mit dem Wind in Form von eiskalten Böen aus Nord-Ost muss noch geändert werden…
Wie das Leben so spielt…
Ich habe mal in Europa hineingeschaut. Ist nichts für mich. Wenn das Buch jemand haben möchte: Ich gebe es gegen Porto ab. (Achtung: Das Porto für Pakete inner- und ausserhalb der Schweiz ist ziemlich teuer. Und ich würde auf Vorauskasse bestehen… )