Sir Humphry Davy’s
tröstende Betrachtungen
auf Reisen
oder die
letzten Tage eines Naturforschers.
Nach der dritten Ausgabe verdeutscht
von
C. Fr. Ph. Martius.
Zweite verbesserte Ausgabe
mit dem Bildnisse des Verfassers.
Nürnberg,
bei J. L. Schrag.
So das komplette Titelblatt meiner Ausgabe. Zu ergänzen wäre noch das Erscheinungsjahr der zweiten verbesserten Ausgabe: 1839.
In der Tat ein seltsames Buch, wie der Verfasser von The Age of Wonder, Richard Holmes (der mich auch darauf aufmerksam gemacht hat), seine Leser vorwarnt. Solche Warnungen haben bei mir den natürlichen Effekt, das Buch lesen zu müssen.
Dass es das Buch in Grossbritannien (mindestens) bis zur dritten Auflage geschafft hat, dass es sogar ins Deutsche übersetzt wurde und dass diese Übersetzung es auch in eine zweite Auflage schaffte, die man sogar überarbeitete und mit einer Illustration versehen hat, beweist, dass die Tröstenden Betrachtungen von Humphry Davy seinerzeit tatsächlich so etwas wie ein Verkaufsschlager gewesen sein müssen. Dass mein Exemplar in Halbleder gebunden wurde, zeigt, dass man dem Buch grosse Wertschätzung entgegen gebracht haben muss. Dass dieses Buch aber seit 1839 nicht mehr übersetzt worden ist, zeigt, dass man es offenbar schon rasch als allzu seltsam empfand.
Tatsächlich handelt es sich hier um das letzte Werk von Humphry Davy, seinerzeit ein Shooting-Star in der naturforschenden Szene, später Rivale von Joseph Banks um das prestigeträchtige Amt eines Vorsitzenden der Royal Society, noch später vom Leben (unter anderem auch seiner Frau) enttäuschter Ex-Vorsitzender, der erleben musste, wie sein ehemaliger Assistent Faraday seinen Ruhm zu überstrahlen begann. Davy schrieb es tatsächlich in seinen letzten Tagen, als er bereits todkrank war – im Bewusstsein, dass diese seine Krankheit terminal verlaufen würde. Zuerst in der Hoffnung auf Heilung, dann nur noch auf Linderung der Symptome, hielt er sich an seinem Lebensende in Illyrien und in Italien auf.
Die tröstenden Betrachtungen sind dann so etwas wie ein hochstilisierter Reisebericht. Allerdings stimmt darin nicht viel mehr als die Gegend, in der sich der Ich-Erzähler und seine Freunde und Reisegruppe aufhalten, mit der Realität überein. Schon die Reisegruppe ist teils erfunden, teils stilisiert – wozu gehört, dass praktisch alle gräzisierende Namen tragen, ausser dem einen Fremden, der später hinzukommen wird, und der gar keinen Namen trägt. Dieser Fremde ist eine Art Alter Ego des realen Davy.
Inhaltlich, und das macht das Buch so seltsam, haben wir eine Mischung verschiedenster Genres vor uns. Da wird zuerst ein merkwürdiger Wachtraum erzählt, der die frühere und auch die zukünftige Entwicklung der Menschheit schildert, und der ohne weiteres in die Kategorie der Utopien eingeordnet werden kann. Dann ist da die Geschichte von jener jungen Frau, von der Davy als junger Mann schon geträumt haben will, und die ihm nun in Realität in einem illyrischen Dorf, in dem er sich lange aufgehalten hat, ‚wieder‘ begegnet ist. Sie bleibt allerdings eine Randerscheinung – grosse Teile des Textes bestehen aus naturwissenschaftlichen Diskussionen bzw. Referaten des später hinzu gekommenen Fremden. Es fällt auf, dass das eigentliche Kerngebiet des Naturwissenschafters Davy, die Chemie, fehlt. Wir finden geologische Spekulationen über Kalkablagerungen in einem See, die Anlass sind für Davys Alter Ego, sich zum Neptunismus zu bekennen. Ein in diesem See aufgefundenes Tier – es wird zwar beschrieben, aber nicht benannt oder klassifiziert (nach meinen bescheidenen Kenntnissen der Biologie könnte es sich um eine Art Neunauge gehandelt haben) – gibt der Gruppe Anlass zu Auslassungen zur Zoologie. Alle Teilnehmenden äussern dabei einen schon fast horror-mässigen Abscheu vor der gottlosen Theorie, dass sich die (tierischen) Arten aus einander entwickelt haben könnten.
Wahrscheinlich ist Davy nicht dazu gekommen, dem Text einen letzten Schliff zu geben. So haben wir ein recht disparates Konvolut vor uns, das vor allem dem Biografen interessant zu sein vermag. Als Einblick in die Gedankenwelt eines Naturforschers zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe ich es gern gelesen, denke aber, dass es alles in allem zu Recht im Orkus der vergessenen Bücher verschwunden ist.