Hauff starb kurz nach der Veröffentlichung des dritten Mährchen⸗Almanachs unerwartet mit 25 Jahren an einer Typhus-Erkrankung. Er gehört demnach nicht in den Kreis der Frühvollendeten, die in Erwartung eines nahen Todes ihre Werke verfassen. Dennoch oder gerade deswegen verlockt sein früher Tod zu Spekulationen darüber, wie er sich weiterentwickelt haben könnte. Allerdings hat Hauff in den drei Jahren seiner literarischen Tätigkeit eine riesige Menge verschiedenster Texte verfasst – eine so große Menge an Text, dass wohl eher der Schluss vorliegen müsste, er wäre, hätte er länger gelebt, in die ausgefahrenen Geleise einer Produktion von trivialer Massenware gerutscht wie zum Beispiel der Vielschreiber August Lafontaine, der – wie Hauff – ebenfalls schrieb, um davon zu leben.
Nehmen wir als Beispiel Hauffs drei Mährchen⸗Almanache. Ich weiß nicht, ob ein vierter geplant oder vorgesehen war – aus den drei existierenden lässt sich kaum ablesen, wie der vierte ausgesehen haben könnte (außer natürlich, dass Hauff, falls ihm nicht die Zeit dazu gefehlt hätte wie beim zweiten, wohl sämtliche Märchen selber geschrieben hätte).
Allen Mährchen⸗Almanachen gemeinsam ist die Struktur von Rahmenerzählung und Binnenerzählungen. Viel mehr Gemeinsamkeiten findet man nicht. In den ersten beiden Almanachen ist der Rahmen in einem märchenhaften Orient angesiedelt, im dritten in Deutschland. Während sich in den ersten beiden Almanachen zeigte, dass eine der Binnenerzählungen mit dem Rahmen verknüpft war (woraus Hauff die Schlusspointe des Almanachs bildete), ist der Rahmen im vorliegenden dritten Mährchen⸗Almanach völlig von den Binnenerzählungen unabhängig. Im Grunde genommen könnte man aus dem Rahmen des dritten Mährchen⸗Almanachs sämtliche Binnenerzählungen herausstreichen und man hätte immer noch eine vollgültige Novelle vor sich. (Was ja, zumindest ansatzweise, tatsächlich geschehen ist, als 1958 daraus eine der erfolgreichsten deutschen Filmkomödien gemacht wurde.) Dafür fehlt der Ansatz zu meta-poetischen Erörterungen im Stile des Rahmens der Serapionsbrüder von E. T. A. Hoffmann, den der zweite Mährchen⸗Almanach aufweist. Es wirkt, als hätte Hauff blind umher getastet, welche Form, welcher Inhalt, am besten passen würden – ohne zu einem definitiven Resultat gekommen zu sein.
Auch der Charakter der Binnenerzählungen ändert sich im dritten Mährchen⸗Almanach. In den ersten beiden hatten wir, neben viel weniger Wichtigem, weniger Gutem, eine recht witzige Gesellschaftssatire (Der Affe als Mensch im zweiten Almanach) und einige Märchen, die sich bis heute gehalten haben, weil sie die Kernbotschaft enthalten, dass man sein kann, wie man sein mag, auch körperliche oder geistige Defizite aufweisen darf und dennoch ein vollgültiges Mitglied der Gesellschaft sein oder werden kann. (Der kleine Muck und der Zwerg Nase weisen schon im Titel auf die Kleinwüchsigkeit der Protagonisten hin, und, seien wir ehrlich, die kindliche Art und Weise, wie sich der Kalif Storch und sein Wesir über die Gespräche zweier Störchinnen amüsieren können oder später auch über sich selber, wie sie als Störche so umsonst nach dem Zauberwort suchten, entspricht nicht ganz dem Verhalten, das wir von Erwachsenen erwarten würden – was keine Kritik sein soll.) Das sind denn auch die Geschichten, die sich über mittlerweile rund zwei Jahrhunderte gehalten haben, und die besser sind, als es viele Literaturwissenschaftler glauben haben wollen. Allerdings weist der zweite Mährchen⸗Almanach mit der Erzählung Abner, der Jude, der nichts gesehen hat einen schlimmen antisemitischen Ausrutscher auf, der leider in Hauffs Werk kein Einzelfall ist. Antisemit und Anti-Ableist – Hauffs Werk steckt voller Überraschungen …
Qualitativ ähnlich durchzogen wie seine Vorgänger ist auch Das Wirtshaus im Spessart, was die Binnenerzählungen betrifft. Said und seine Schicksale ist eine nichtssagende Aneinanderreihung von Höhen und Tiefen des genannten Said – ein Ausreißer auch, weil es sich um die einzige orientalische Binnenerzählung handelt. (Sie ist, informiert mich das Nachwort meiner Ausgabe, offenbar vom zweiten Mährchen⸗Almanach übrig geblieben, weil für diesen zu spät fertig geworden.) Die Höhle von Steenfoll spielt in Schottland und erzählt die Sage von zwei schottischen Fischern, die sich von der Gier nach Gold zu unlauteren Taten verleiten lassen. Die Moral kommt mit dem Zaunpfahl daher; aber die Geschichte ist nicht besser oder schlechter als so manche jener Zeit. Die Sage vom Hirschgulden ist eine nicht ganz logisch geschlossene Sage davon, wie die Stadt Balingen (die es gibt) um geringes Geld von den Zollern an die Württemberger gekommen sei. Hauff fand seine Vorlage bei Gustav Schwab. Am bekanntesten aus dem dritten Mährchen⸗Almanach ist Das kalte Herz, die Geschichte, wie der Kohlenmunk-Peter mit unlauteren Machenschaften zwei Mal reich wird und zwei Mal bankrott macht, bis er sich entschließt, zu seinem ursprünglichen Handwerk der Köhlerei zurückzukehren. In der Zeit Hauffs oder kurz davor verankert, schildert diese Erzählung, verbrämt mit märchenhaften Elementen bzw. Gestalten, wie im Schwarzwald des beginnenden 19. Jahrhunderts die ursprüngliche, handwerklich-bäuerliche Gesellschaftsstruktur zusammenbricht bzw. vor dem Eindringen eines kapitalistisch orientierten Wirtschaftssystems zurückweicht. Der Kohlenmunk-Peter kann sich letzten Endes nur deshalb in seinem Handwerk halten und prosperieren, weil er die (im wahrsten Sinn des Wortes ‚sagenhafte‘) Unterstützung des Glasmännleins hat. Dass sich die Sage bis heute halten kann, ist wohl der genuin menschlichen Sehnsucht nach der guten alten Zeit zuzuschreiben, einer Zeit, als alle noch lieb und nett miteinander waren. Dass die Geschichte auch in der DDR und sogar in der UdSSR beliebt war, ist nicht verwunderlich angesichts der Kapitalismuskritik und des Lobs des einfachen Arbeiter-Handwerkers, die man herauslesen kann.
Eine sozio-ökonomische Lektüre des Kalten Herzens mag interessant sein, aber in einem Jugendbuch funktioniert das schlecht. Ich erinnere mich gut daran, dass ich in meiner eigenen Kindheit die ersten beiden Almanache Hauffs immer wieder und (auch die weniger guten Erzählungen) immer wieder gern gelesen habe. Der dritte Mährchen⸗Almanach aber war mir immer zu düster und zu wenig interessant. Daran änderte auch die durchaus als Abenteuergeschichte lesbare Rahmenerzählung nichts. Heute finde ich an der Rahmenerzählung vor allem interessant, dass der junge (gerade mal 16-jährige) Goldschmied, der die Gräfin vor den Räubern rettet, dies nicht mit Säbel und Pistole tut sondern indem er sich als eben diese Gräfin verkleidet. Die Räuber wollen sie nämlich entführen, um von ihrem Gatten Lösegeld zu fordern. Der Mut eines 16-Jährigen, sich in Frauenkleidern tage-, vielleicht wochenlang, unter Räubern aufzuhalten und nicht zu wissen, wie das Ganze ausgehen wird, wird meines Erachtens viel zu wenig hervorgehoben.
Wie weit wir hier von Transvestitismus sprechen können, will ich nicht entscheiden. Ich weiß zumindest von keiner Erwähnung unseres Goldschmieds durch die Gemeinschaft der LGBTQ+. Auch jene anti-ableistischen Forderungen danach, dass in der (Abenteuer-, Fantasy-, SF-)Literatur auch behinderte Menschen als Protagonist:innen existieren dürfen, haben Hauffs Märchen noch nicht entdeckt.
Meine Ausgabe:
Wilhelm Hauff: Sämtliche Märchen. Mit den Illustrationen der Erstdrucke. Herausgegeben von Hans-Heino Ewers. Dietzingen: Reclam, 2011. (= RUB 104)