N° 8 in derselben Reihe, in der die gerade erst hier vorgestellte Auswahl aus den Werken Ernst Tollers erschienen ist. Datum: Januar 1964. Ebenfalls nur eine Auswahl-Ausgabe. Ähnlicher Aufbau auch wie die Toller-Ausgabe. Anders ist aber Folgendes: Zum einen wird hier ein verantwortlicher Herausgeber genannt, nämlich Kurt Pinthus. Zum andern ist es wohl diesem Herausgeber zuzuschreiben, dass ein brauchbarer bibliografischer Anhang ebenso beigefügt wurde, wie eine wirklich informative Einführung in Leben und Werk Hasenclevers (die natürlich von Pinthus stammt).
Die Ausgabe ist schon lange vergriffen; die Bibliografie wohl auch nicht mehr up to date. Schauen wir uns das Buch trotzdem an:
Gedichte
Nach der Einführung durch Pinthus folgt eine Auswahl aus zwei frühen Gedichtbänden Hasenclevers. Er, der zuerst durch Gedichte berühmt geworden ist, hat sehr früh in seiner literarischen Karriere damit aufgehört, Lyrik zu verfassen.
Der Jüngling [1913]
Besteht ursprünglich aus fünf Teilen à je zehn Gedichten. Von diesen 50 Gedichten sind hier 22 abgedruckt. Hier verwendet Hasenclever zwar einen expressionistischen Sprachduktus, bleibt aber formal gleichzeitig sehr konservativ. So behält er z.B. den Reim bei. Es geht in diesen Gedichten um eine Gegenüberstellung von Jugend und Alter, wie sie für Hasenclever in seiner frühen Zeit typisch war. Sehr gelungen das Ganze; der Autor ist damit nicht umsonst auf Anhieb sehr bekannt geworden.
Tod und Auferstehung [1917]
Auch aus diesem Gedichtband nur eine Auswahl. Datum und Titel weisen schon darauf hin: Hasenclever verarbeitet hier seine Kriegserlebnisse. Gleichzeitig sind es die vielleicht am meisten politischen Gedichte, die Hasenclever veröffentlicht hat. Hier positioniert er sich auf der linken Seite des politischen Spektrums – mit Anklängen allerdings bereits an seine im Laufe seines Lebens zunehmenden mystischen Ansichten. Er sollte in den nächsten Jahren zu Swedenborg driften, den er in die Moderne übernehmen zu können hoffte (er übersetzte auch eine Auswahl aus den Werken des Geistersehers). Gleichzeitig, aber länger andauernd, gab es bei Hasenclever eine (wohl selbstgestrickte, ins Mystische umgebogene) Variante des Buddhismus, die er vertrat.
Aber auch diese Gedichte gehören sprachlich-formal zum Besseren, das die deutsche Literatur diesbezüglich vorzuweisen hat.
Aus anderen Sammlungen
Einige wenige Gedichte aus weiteren Veröffentlichungen Hasenclevers. Auch diese thematisch mit dem Krieg und der Jugend beschäftigt, auch diese gehören sprachlich-formal zum Besseren, das die deutsche Literatur diesbezüglich vorzuweisen hat.
Dramen
Neben der Lyrik wurde Hasenclever sehr rasch für seine Dramen bekannt (bzw., je nach politischer Einstellung des Rezensenten: berüchtigt). Nach einer Reihe von genuin expressionistischen und düster-aufgeregten Dramen fand Hasenclever im französischen Exil zur Komödie und zu einer konventionelleren Dramentechnik. Man hat ihm die Abkehr vom Expressionismus schon zu Lebzeiten vorgeworfen; man hat ihm das beim Erscheinen der vorliegenden Auswahl wiederum vorgeworfen; ja, man findet noch heute in den Weiten des Internet Abhandlungen zu Hasenclevers Dramen, die im 21. Jahrhundert verfasst wurden und ihm immer noch dasselbe vorwerfen.
Dabei sollte jeder, der nur schon mal versucht hat, einen Witz zu erzählen, wissen, dass gerade Komisches nicht so einfach zu liefern ist. Und eine Komödie, die ja mehr ist, als eine einfache Aneinanderreihung von Witzen, ist erst recht nicht einfach zu schreiben. Was Hasenclever betrifft: So weit man seine Dramen noch heute lesen oder aufführen will, sollte man tatsächlich auf seine Komödien zurück greifen – diese haben bedeutend besser gealtert als seine ‚expressionistischen‘ Dramen.
Der Sohn
Aus heutiger Sicht müssen wir sagen, dass Hasenclever darin primär einmal sein mehr als kompliziertes Verhältnis zu seinem ultrakonservativen Vater thematisiert – einem Vater, der an Rohheit und Gefühllosigkeit offenbar kaum zu übertreffen war. Das Stück war auf der Bühne allerdings ein sofortiger Erfolg, was daran lag, dass die junge Generation von Literaten und Zuschauern sich in der Situation des vom Vater unterdrückten jungen Mannes wiederfand. Bei allen dramaturgischen und logischen Mängeln des Stücks ist es doch ein gelungenes und typisches Beispiel des Aufruhrs der Jungen – die 68er Bewegung oder unmittelbar danach die 80er Punks haben nichts anderes gewollt und geliefert.
Antigone
Hasenclever biegt das antike Motiv des Bürger- und Bruderkriegs unter den Nachfahren des Ödipus um in eine Darstellung der Verrohung der Sitten in allen Klassen der Gesellschaft – eine Verrohung, die dem Krieg zuzuschreiben ist. Ein pazifistisches Anti-Kriegs-Drama unter dem Deckmantel einer Bearbeitung eines antiken Stoffs also. Auch hier gibt es dramaturgische und logische Mängel, aber der Versuch, Antigone auf eine überdimensionale Bühne zu bringen, ist dennoch faszinierend.
Die Menschen
Ein formales Experiment. Durch Reduktion der Sprache auf das absolute Minimum, die absolute Notwendigkeit erreicht Hasenclever ein Destillat menschlichen Verhaltens, das in seiner Form wie ein Vorläufer des absurden Dramas klingt.
Ein besserer Herr
Hier nun betreten wir das Gebiet der Komödie. Im Stil einer Gesellschaftskomödie stellt Hasenclever einmal mehr die Gefühllosigkeit der Generation der Väter an den Pranger – die nun aber auch in eine kapitalistische Ausbeutung der Gefühle bei den Jungen mündet. Ein Don Juan, der seine Liebestätigkeit bis ins letzte Detail durchorganisiert hat, findet zur Ehe mit der Tochter eines Fabrikanten (der auch beim Essen mit der Familie jederzeit telefonisch erreichbar ist – als hätte Hasenclever die Erfindung und den Gebrauch des Smartphones voraus geahnt …). Der Sohn des Fabrikanten wiederum trotzt dem Vater und der Enterbung und heiratet die Hausangestellte. Gesellschaftskritik im Mantel der Komödie – sicher nichts Neues, nichts Seltenes, aber gut gemacht. Der Aufstand der Söhne gegen die Väter ist hier auf jeden Fall schlüssiger dargestellt – wenn auch weniger dramatisch.
Ehen werden im Himmel geschlossen
Hier bringt Hasenclever den lieben Gott persönlich auf die Bühne. Schon alleine dies sollte für einen Skandal sorgen. Dazu kommt die Tatsache, dass der Versuch Gottes, drei Menschen, die um der Liebe willen Selbstmord begangen haben, ein glückliches und erfülltes (Liebes-)Leben zu vermitteln und sie deshalb nochmals in anderen Rollen zurück auf die Erde zu schicken, grausam scheitert. Erst die Frau, die am meisten leidet und doch am glücklichsten ist, kann einen prekären Modus vivendi erstellen. Gott aber dankt ab.
Napoleon greift ein
Im Grunde genommen eine Variante des vorher gehenden Stücks. Diesmal ist es Napoleon, der im 20. Jahrhundert aus einem Wachsfigurenkabinett ausbüxt und noch einmal versucht, seinen alten Traum eines geeinten Europa zu verwirklichen. Er scheitert. Einerseits an der Macht des (US-amerikanischen) Kapitalismus, die Europa ganz ohne seine Hilfe und in einer von ihm so nicht angedachten Form vereint. Andererseits und nicht zuletzt an der Liebe, denn er trifft erneut auf eine Josephine. Nur erfährt er, was er zu Lebzeiten nicht erfahren hatte: Dass diese Josephine ihn ebenso betrügt wie damals ihre Namensvetterin. Auf dem Set eines Films, der ebendies dramatisieren soll, bringt er seine neue Josephine um. Oder jedenfalls versucht er es. Er kehrt angewidert von den Frauen zurück in sein Wachsfigurenkabinett, wo der im Programmheft nicht aufgeführte Mussolini den Schlussauftritt hat: Er sucht nämlich seine Hosen, die ihm Napoleon stibitzt hatte, um in einem einigermaßen modernen Aufzug in Paris zu erscheinen.
Münchhausen
Eigentlich ist die Figur des Baron von Münchhausen fast schon ein Muss für einen, der ganz im Ernst von sich behauptete, dass Johann Wolfgang Goethe sein Urgroßonkel gewesen sei, oder zumindest sein Ur-Urgroßonkel. Wie Münchhausens Geschichten hat auch die von Hasenclever einen wahren Kern. Wenn Münchhausen zwar die Türkenkriege mitgemacht hat, aber keineswegs auf einer Kanonenkugel ins feindliche Lager geritten ist, so stimmt auch das mit der Verwandtschaft nur cum grano salis. Nämlich: Es stimmt zwar, dass Hasenclevers Urgroßvater David Hasenclever die Tochter des bedeutenden Frankfurter Juristen Johann Georg Schlosser heiratete, der nicht nur ein naher Freund des jungen Goethe gewesen war, sondern auch der Gatte von dessen Schwester Cornelia. Allerdings stammte die Tochter, die Urgroßvater David heiratete, aus Schlossers zweiter Ehe mit Johanna Fahlmer – ebenfalls einer vertrauten Freundin Goethes, die dieser nach der Heirat mit Schlosser manchmal in Briefen mit meine Schwester anredete.
Es handelt sich beim Münchhausen wahrscheinlich um Hasenclevers bestes Drama. Er ist nun auch über die Komödie hinaus. Ohne weiter mit der großen, tragischen Kelle anzurichten, wie noch in der Antigone, gelingt dem Autor eine tragische Komödie über das Altern, das Leben und die Liebe. Hasenclever stellt uns in diesem Drama den alten Münchhausen vor. Nicht den, der im Kreise seiner Freunde seine Lügengeschichten erzählt. Besser gesagt: den auch, aber nur ganz kurz. Sondern den, der sich noch mit 70 in eine 17-Jährige verliebt und sie auch heiratet. Das entspricht sogar der historischen Wahrheit. Die Ehe endet (wie damals für den echten Münchhausen) auch bei Hasenclever in einem Desaster. Dennoch behauptet der sterbende Münchhausen Hasenclevers nie so glücklich gewesen zu sein wie mit seiner Bernhardine. (Vom echten Münchhausen haben wir keine solche Aussage.)
Ganz anders als Hasenclevers bisherige Dramen und dennoch einmal mehr sein ‚ewiges‘ Thema: die Unmöglichkeit einer Beziehung zwischen Mann und Frau. Er bleibt sehr nahe an den biografisch-historischen Fakten und schildert genau deshalb sehr eindrücklich das Elend eines alten, zu nichts mehr zu gebrauchenden Mannes. (Münchhausen kann ja seiner jungen Frau nicht einmal mehr ein Kind, den so dringend nötigen Erben, machen …)
Prosa
Hasenclever hat erst spät mit dem Schreiben von Prosa begonnen. Zwei Romane befanden sich zur Zeit der Veröffentlichung des vorliegenden Buchs noch unpubliziert in seinem Nachlass bei seiner Witwe. Dem Herausgeber Kurt Pinthus ist es gelungen, einen der beiden zur Publikation zu erhalten. Ob er damit dem Autor (und der Leserschaft) einen Gefallen getan hat, lasse ich dahingestellt.
Die Rechtlosen
Eigentlich fast eher eine Kurzgeschichte als ein Roman. Hasenclever verarbeitet darin seine Erlebnisse als Internierter in Frankreich. Es geschieht während des ganzen Romans sehr wenig. Der Ich-Erzähler (der in allem die Biografie des Autors teilt) diskutiert nächtelang mit seinen Freunden; die meisten davon sind ebenfalls Emigranten. Er diskutiert, bevor er interniert wird; er diskutiert im Lager; er diskutiert, als er für kurze Zeit aus medizinischen Gründen wieder nach Hause darf; er diskutiert weiter, als er zurück ins Lager berufen wird. Er diskutiert über Gott und die Welt (bzw. über Politik und Religion – hier äußert sich das Ich dezidiert buddhistisch). Nur eines diskutieren die Freunde nicht: Wie sie aus dem verdammten Frankreich, dessen Boden für deutsche Emigranten immer heißer wurde, weg kommen könnten. Ja, zum Schluss verlässt der Ich-Erzähler das Lager nur widerstrebend. (Er hat Ausweise als Staatenloser und gilt deshalb nicht als Deutscher – es wurden im ersten Anlauf nur deutsche Staatsangehörige interniert.) Er hat im Lager Freunde gefunden, Männerkameradschaften – etwas, wofür ihn auch die Frauen (die nicht interniert wurden) nicht entschädigen können.
Mehr Autobiografie als Roman, vor allem, weil der Ich-Erzähler ganz eindeutig die Antriebslosigkeit teilt, die Hasenclever am Ende seines Lebens ereilt hat (vielleicht auch bei ihm mitbegründet durch die Nachricht vom Selbstmord Tollers).
Autobiographisches
Ein paar Lebensläufe, die Hasenclever in den 1920ern für verschiedene Gelegenheiten verfasst hat. Aber selbst die paar Zeilen unter dem Titel Mein Weg zur Komödie geben wenig Nachricht über den Menschen oder gar den Autor Hasenclever; der Text bleibt an äußeren Geschehnissen kleben. Solche Lebensläufe hätte Hasenclever jedem Bewerbungsschreiben für einen Job als Kaufmann beifügen können.
Alles in allem wird Hasenclever wohl nie zu den ganz Großen im Pantheon der deutschen Literatur gezählt werden – nicht einmal zu den ganz Großen des Expressionismus. Seine Lyrik gehört zwar zum Feineren dieser Gattung; von ihr ist aber zu wenig vorhanden; seine ‚expressionistischen‘ Dramen sind, was expressionistische Dramen halt so sind: aufgeregt. Seine Komödien sind tatsächlich nicht zu verachten, aber ein Kleist oder ein Molière steht selbst im Münchhausen nicht vor uns. Dennoch dürfte er ruhig mehr gelesen und mehr aufgeführt werden.