Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II

Das zweite Buch der offenen Gesellschaft gliedert sich in drei Teile: Der erste richtet sich gegen Hegel, der als der Verursacher des modernen historizistischen Denkens ausgemacht wird, der zweite gegen Marx und seine Vision der klassenlosen Gesellschaft, während der dritte diese Kritiken teilweise wiederholt und eine Lanze für den kritischen Rationalismus im Sinne Poppers bricht, wobei er sich vor allem gegen relativistische und irrationalistische Tendenzen der Philosophie ausspricht.

Seine Kritik an Hegel ist vernichtend (und ich teile sie in allen Bereichen): Hegel war ein höchst mittelmäßiger Philosoph ohne eigene oder auch nur originelle Gedanken, der diese seine Mittelmäßigkeit durch sprachliche und stilistische Verschwommenheiten zu kompensieren vermochte (inwieweit dies beabsichtigt war kann ich nicht beurteilen: Allerdings scheint – wenn man einen Blick in die Philosophiegeschichte wirft – ein Zusammenhang zwischen Inhaltsleere und verworrener Terminologie zu bestehen, die Postmoderne hat in der Gegenwart ein weiteres Beispiel dafür geliefert). Popper kritisiert Hegel vor allem für seinen historizistischen Ansatz, der in der Geschichte nicht nur Gesetze zu erkennen meint (die meisten dieser Denker sehen mit ihrem eigenen Entwurf diese Geschichtsphilosophie auch schon zum Abschluss gekommen), sondern die Geschichte selbst auch zum Richter des Geschehens erhebt. Dadurch manifestiert sich der Weltgeist im jeweiligen System oder Herrscher (Napoleon als dieser Weltgeist zu Pferde, später von Hegel durch Friedrich Willhelm III. ersetzt, wobei Poppers Ansicht, dass die gesamte Hegelsche Philosophie eine Apologie des totalitären Herrschaftssystems in Preußen gewesen sei, nicht ganz von der Hand zu weisen ist). Hegels Inkonsistenzen werden durch seine Dialektik systematisiert: Für ihn sind logische Widersprüche nicht dazu da, aufgelöst zu werden, sondern sie heben sich in einer wahrscheinlich nur für Eingeweihte nachvollziehbaren Weise auf einer nächsthöheren Stufe auf. Auf diese Weise entkommt Hegel einer logisch-rationalen Auseinandersetzung mit seinen Thesen – und er kann auch immer wieder Dinge dogmatisch absolut setzen, weil er in seinem System auf jedwede Begründung verzichten kann. So wird etwa auch – und dies ist einer der Hauptkritikpunkte Poppers – der Staat absolut gesetzt („es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“*) und damit implizit (bzw. auch explizit in vielen seiner Äußerungen) dem Totalitarismus das Wort geredet.

Von Hegels prophetischer Sichtweise der Geschichte war denn auch Marx beeindruckt, wenngleich er bemüht war, dessen System vom „Kopf auf die Füße zu stellen“ und aus dem Idealismus einen Materialismus zu machen. Die gesamte Kritik Poppers an Marx ist berechtigt (vor allem was die Geschichtskonzeption Marx‘ betrifft): Weder konnte (noch hat) er diese Geschichte vorausgesehen – und er war dadurch auch nicht in der Lage, alternative Modelle zu entwerfen: Modelle, die nicht in der Konzentration des Kapitals und im Untergang des Kapitalismus zwangsläufig enden, sondern irgendeinen Weg dazwischen nehmen (wie denn solche „Alles-oder-Nichts-Modelle“ so gut wie immer sich als falsch herausstellen, weil die Natur des Menschen vielfältiger ist als sich der Philosoph das in seinem Studienzimmer vorzustellen in der Lage ist). Von dieser fehlgegangenen Prophetie des Marxschen Denkens abgesehen hat er auch in ökonomischer Hinsicht wenig Konstruktives zu bieten: Sein Modell geht vom Zusammenbruch des Kapitalismus aus und von einer sich – irgendwie automatisch – installierenden klassenlosen Gesellschaft, von deren ökonomischen Strukturen man gar nichts erfährt. Marx ist im Grunde nur ein in alternativem religiösem Gewande auftretender Prophet: Er verlegt sein Himmelreich auf die Erde (seine politischen Anhänger mussten es ohnehin wieder auf eine in weite Ferne gerückte Endzeit verschieben) und hofft – wie Hegel – auf die „Vernunft der Geschichte“. Aber auch Marx ebnet dem totalitären Denken den Weg, indem er durch sein starres historizistisches Konzept jedwede Kompromisse mit den Unternehmern (die völlig unzulässig vereinfacht nur immer eine Kapitalvermehrung im Auge haben, während die Arbeiter in jedem Fall verelenden) ausschließt und dem revolutionären Kampf das Wort redet. – Allerdings sind viele von Popper angestellten Analysen ein wenig ermüdend: Denn die Unsinnigkeit der Marxschen Prophetien sind so offenkundig, dass die detaillierten Argumente gegen Profit- oder Zinsrate, die von Marx für seine Vision angeführt werden, auf die Dauer langweilen.

Ein letzter Teil (als auch ein Teil des Anhanges) sind schließlich der Kritik des Irrationalismus (und dem Programm des kritischen Rationalismus) gewidmet. Ich stehe hier im Grunde völlig auf der Seite Poppers, allerdings halte ich seine Annahme für falsch, dass rationale Überlegungen für Handlungsentscheidungen ausschlaggebend seien. Popper hat auch schon Hume kritisiert (und auch missverstanden), der die Vernunft zur Dienerin der Gefühle erklärt hatte: Dies ist nicht Programm, sondern das Konstatieren eines Faktums**. Vielleicht wäre eine Welt der Rationalität eine bessere Welt (ich bin mir da allerdings nicht sicher), tatsächlich aber leben wir in einer Welt, die von Emotionen regiert wird und in der die Vernunft nicht die Zwecke setzt, sondern nur die Mittel bestimmt, die zu diesen Zwecken eingesetzt werden. Möglicherweise dient der Rationalismus auch der Toleranz („man töte keinen Menschen, dessen Argumente man sich anhört“ schreibt Popper – und auch hier habe ich meine Zweifel), ebenso kann aber die Vernunft auch für Intoleranz und Machtstreben benutzt werden (denn ich kann mit „vernünftigen“ Argumenten bestreiten, dass alle Menschen gleich sind (sie sind es nicht – zum Glück) und daraus folgern, dass sie daher auch nicht die gleichen Rechte haben sollen). Die Vernunft kann tatsächlich nur dienen, sie kann die probaten Mittel anbieten, sie kann aber keine Zwecke setzen. Dieses letzte nimmt uns niemand ab, es liegt – wie Popper richtigerweise vom „Sinn“ sagt – an uns, dem Leben, der Welt Sinn zu verleihen. Selbstverständlich führt der Irrationalismus – u. a. – in eine moralische Beliebigkeit (wie auch der Relativismus) und ist deshalb eine problematische Position. Tatsächlich aber wird nirgendwo weder ein konsequenter Irrationalismus noch ein konsequenter Relativismus vertreten (außer bei Philosophen). Problematisch sind vielmehr Strömungen, die sehr genau wissen, dass der Mensch zuerst ein Gefühlswesen ist und diese Gefühle zu instrumentalisieren suchen: Aber wir sind ebenso altruistische wie auch egoistische Wesen. Diesen Altruismus anzusprechen und auf seiner Basis eine Welt zu entwerfen (zu deren Realisierung die Vernunft unabdingbar ist) schiene mir eine bessere Variante als von einem vorgestellten, weil erwünschten Primat der Vernunft auszugehen.

Insgesamt ist das zweite Buch der offenen Gesellschaft weniger überzeugend als der erste Band: Ich halte die Hegelkritik zwar für absolut berechtigt (und verstehe bis heute nicht, was man an diesem Philosophen je hat finden können), die Kritik an Marx ist – wohl auch durch die Geschichte, womit ich mich nicht nur auf 1989, sondern auf die letzten 150 Jahre beziehe – obsolet geworden. Das Plädoyer für den kritischen Rationalismus scheint mir ein wenig fragwürdig: Zum einen aus den oben geschilderten Gründen, zum anderen auch der wenig überzeugenden Polemik wegen, mit der dem Irrationalismus (dem ich keinesfalls das Wort reden will) moralisch fragwürdige Folgen unterstellt werden (wobei im Gegenzug Popper die moralische Integrität des Rationalismus auch nicht nachweisen kann). Dazu kommen noch dubiose Beurteilungen des Christentums im Abschlusskapitel: Dessen Denken Popper in einer Weise als menschlich und human betrachtet, dass es der realen Geschichte Hohn spricht. Das, was Popper hier vertritt, hat mit Christentum rein gar nichts zu tun: Denn das Christentum ist – selbstredend – auch historizistisch bis zum Exzess und mit einer offenen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen. Gerade aber die Kritik des Historizismus ist der Kernpunkt des Werkes: Wir sollen uns hüten vor Propheten aller Richtungen und stattdessen einer Sozialtechnologie folgen: Auf der Basis der Menschenrechte das verhinderbare Leid verhindern – aber nicht ein utopisches Glück für alle anstreben.


*) Dieses Zitat ist beispielhaft für die Argumentationsweise Hegels: Als Grund wird die „Gewalt einer sich als Wille verwirklichenden Vernunft“ angeführt (und so ganz nebenher auch der liebe Gott), einer Vernunft, die in der Geschichte selbst beschlossen ist und auf die Hitler und Stalin auch das Recht besessen hätten sich zu berufen. Der Staat als solcher wird verabsolutiert (und gemeint ist natürlich der deutsche Nationalstaat und Friedrich Wilhelm III.), nicht weil er ein gedeihliches Zusammenleben fördert oder Rechtssicherheit oder Freiheit oder Gleichheit, sondern weil er der Staat ist. Solche „Begründungen“ sind völlig inhaltsleer und können für alles und jedes herangezogen werden: Es ist kein Zufall, dass unter den Nachfolgern sich sowohl Rechts- als auch Linkshegelianer befanden.

**) Die Gehirnforschung bestätigt in ihren Untersuchungen diesen Vorrang der Gefühle, sie zeigt aber auch das empathische Potential, das im Menschen steckt.


Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Tübingen: Mohr/Siebeck 1992.

5 Replies to “Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II”

    1. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Liberalismus und Marxismus: Der Liberalismus vertritt eine Welt der Freiheit (des Glücks …), die aber nicht als geschichtliche Notwendigkeit begriffen wird, sondern als ein (humanitäres) Ziel, das erstrebenswert erscheint, in jedem Fall aber erarbeitet werden muss, auch verfehlt werden kann. Die Konzeption des Marxismus ist hingegen determiniert, der Weg ist unsicher, das Ziel gewiss. Das aber ist ein ganz entscheidender Unterschied, weil für den Liberalismus Revisionen zulässig sind, die im Marxismus noch nicht einmal theoretische Möglichkeiten darstellen. „In dem Maße, in dem er [Marx] aufhört, Historiker zu sein, und Eschatologie sowie Theologie der Geschichte betreibt , öffnet sich in seinem Denken eine Kluft, die oft die einzelnen Analysen nicht unberührt lässt.“ (Zitat Kondylis) Hier wird das entscheidende Problem aufgezeigt, wobei aber Kondylis die Konsequenzen der marxistischen „Eschatologie“ unterschätzt: Diese lässt nicht nur „einzelne Analysen nicht unberührt“, sondern ist inhaltlich konstuierend für sein gesamtes Denken. Tatsächlich ist die Philosophie Marx‘ (und Hegels) mit einer derartigen Terminologie glänzend beschrieben: Sie setzt ein Wissen voraus, das tatsächlich göttlich wäre – und das durch diesen Anspruch höchst gefährliche Implikationen nach sich zieht. Genau diesen Punkt hat Popper sehr gut herausgearbeitet.

      Selbstverständlich hat Kondylis darin Recht, dass auch liberale (oder moderne, kritisch-rationale oder humanistische) Denker auf eine metaphysische Fundierung ihrer Moral zurückgreifen müssen. (In seiner Metaphysikkritik hat Kondylis dies über die letzten 800 Jahre prägnant beschrieben.) Aber Metaphysik ist nicht gleich Metaphysik: Sie ist unabdingbar, weil keine Letztbegründung möglich ist, bedeutsam ist aber die Fallibilität des (metaphyisischen) Standpunktes. Gerade im Sinne des kondylischen Diktums der Selbsterhaltung muss eine solches Fundament stets kritisiert werden können, reversibel sein, um diese Selbsterhaltung zu garantieren.

      Nachsatz: Erklärbar wird die Fehleinschätzung Kondylis‘ in Bezug auf den kritischen Rationalismus möglicherweise dadurch, dass er gänzlich disparate Strömung unter diesen Begriff subsumiert. So wird etwa der Konstuktivist Jürgen Mittelstraß in seinem Buch über die Aufklärung kurioserweise zu den kritischen Rationalisten gezählt (S. 28, Fußnote 34). Diesem Vertreter der Erlanger Schule kann man natürlich eine dogmatische Haltung in Bezug auf Fundierungskonzepte unterstellen (die Unhintergehbarkeit der Lebenswelten), diese Konzepte sind aber der Haltung des kritischen Rationalismus diametral entgegengesetzt.

      1. Das im Kommentar geschilderte Bild des Liberalismus ist doch etwas sehr schön gefärbt. Pluralismus und „Demokratie“ sind keineswegs so harmlos, wie sie immer daher kommen – eine Optik, von der sich auch Carl Schmitt hat täuschen lassen.

        Ob es bei Marx den marxistischen Determinismus tatsächlich gibt, ist eine offene Frage: es gibt genug Marxisten, die das bestreiten bzw. Revision betreiben. Und damit Marx kritisieren – siehe etwa den Nachtrag dieses Textes http://www.contradictio.de/Hegel.pdf ab Seite 95 – aber natürlich auf Grundlage anderer Erkenntnisse von Marx … sieht man dazu noch den Brief von Marx an Sassulitsch http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_384.htm , dann geht einem „Determinismus“ nicht mehr so leicht über die Lippen.

        Die meisten „Begründungen“ sind meist eher Legitimationen der vorgefundenen (gesellschaftlichen) Wirklichkeit. Die Metaphysiker steigen da teilweise bis heute in den Himmel, um mit dem lieben Gott den status quo abzusegnen. Aber inzwischen können sie es auch ohne Gott (siehe Luhmann und sein Götze „System“)

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