Das Buch bietet für den mit den Kernpunkten des Kritischen Rationalismus Vertrauten nichts Neues: Falsifikation, Fallibilismus, die Wahrheit als ein die Wissenschaft leitendes Interesse, wobei wir nie Gewissheit erlangen können, Alberts Münchhausen Trilemma, Induktions- und Abgrenzungsproblem oder die Frage nach dem wissenschaftlichen Fortschritt. Das alles in der Tradition der (Kantschen) Aufklärung, die den Menschen dazu auffordert, alles und jedes zu hinterfragen und vor allem jegliche Autoritätsgläubigkeit zu vermeiden.
All diese Prinzipien hat Popper auch auf die Sozialwissenschaften angewandt und in der zweibändigen „Offenen Gesellschaft und ihre Feinde“ (Teil II) als auch im „Elend des Historizismus“ dargestellt. Salamun geht ausführlich auf die Implikationen des Kritischen Rationalismus auf die gesellschaftliche und politische Ausgestaltung unseres Lebens ein – und das zu Recht. Denn die Sehnsucht nach „geschlossenen Gesellschaften“, nach Strukturen, die dem Menschen ein vereinfachtes Weltbild bieten, die ihm die Last der Entscheidung abnehmen und seine Verantwortung delegieren, scheint paradoxerweise wieder zu erstarken. Das Bedürfnis nach Gewissheit, nach Überschaubarkeit der sozialen Beziehungen, einem simplen Schwarz-Weiß-Schema vermittelt jene Sicherheit, die die komplexe Wirklichkeit nicht zu vermitteln vermag.
Dabei geht Salamun explizit auf den Faschismus, den Kommunismus sowjetischer Prägung und den Islamismus (in der vom IS vertretenen Form ein). Dass er mit seinen Ausführungen Recht hat steht außer Zweifel, mir wäre aber eine beispielhafte Darstellung aktueller politischer Machthaber bzw. Machtgefüge, deren moralische Defizite nicht so offen zutage liegen, lieber gewesen. So kann man in Ungarn, der Türkei oder in Polen genau jene Ansätze feststellen, die Popper als für eine offene Gesellschaft höchst gefährlich geschildert hat: Latenter Druck auf die Staatsbürger, Einschränkungen von Freiheiten (insbesondere der Pressefreiheit), Schaffen von Sündenböcken, die die eigene Politik untergraben (die EU, die Flüchtlinge, in Ungarn außerdem noch ein latenter Antisemitismus, der sich an der Person von George Soros entzündet*), der exklusive Wahrheitsanspruch der Regierenden, sprachliche Leerformeln (der österreichische Wahlkampf – vor allem durch die ÖVP – war ein Paradebeispiel) u. v. m. Denn explizite Verteidiger der Terrorregime (ob rechts, links oder religiös motiviert) sind (noch) recht selten, sehr viel klarer treten aber jene Anfänge zutage, die solche totalitären Strukturen zur Folge haben können. Und offenbar sind westliche, seit langen Jahren bestehende Demokratien vor solchen Tendenzen ebensowenig geschützt (wie Österreich, Frankreich oder die AFD in Deutschland zeigen) wie die zuvor erwähnten Länder.
Das Buch bietet keine tiefgehende Analyse Popperschen Denkens: Aber eine gelungene Zusammenstellung der Positionen des Kritischen Rationalismus. Ein wenig amüsiert habe ich zur Kenntnis genommen, dass die von Popper selbst als höchst bedeutsam empfundene Weltenkonzeption auch in diesem Buch nur in einem Halbsatz zur Sprache kommt: Das Unbehagen über diese etwas seltsam anmutende und wenig sinnvolle Konstruktion ist bei vielen kritischen Rationalisten spürbar (so erwähnt auch Hans Albert sie in seinen Büchern meines Wissens nirgends – oder eben nur in einer Fußnote). Eine eingehende Kritik dieses „Sündenfalls“ ist mir leider nicht bekannt, erschiene aber notwendig (Salamuns Ansicht, dass diese Welt drei die Willensfreiheit des einzelnen unterstreichen hätte sollen, mutet durchaus plausibel an: Aber dem Determinismus hätte man auch anders zuleibe rücken können). Insgesamt ein sehr gut lesbares, informatives Buch, das sich als Einführung in den Kritischen Rationalismus eignet. Aber – wie Salamun im Vorwort explizit erwähnt – kein wissenschaftliches Fachbuch.
*) Soros wird ernsthaft von ungarischer Seite vorgeworfen, die sogenannte Flüchtlingskrise initiiert zu haben, um die politische Stabilität in Europa zu untergraben. Die Tatsache, dass derart abstruse Vorwürfe, bei denen sich im Grunde jedweder Kommentar erübrigt, entsprechende Wirkungen entfalten können, zeigt wie notwendig auch heute Aufklärung im klassischen Sinne ist. Im übrigen hat auch die rechtspopulistische FPÖ in Österreich (in der derzeitigen Regierung mit – u. a. – Innen- und Außenministerium betraut) sich dieses Argument zueigen gemacht. – Soros ist pikanterweise der Gründer der Open Society Foundations, die explizit auf Poppers Modell der Offenen Gesellschaft Bezug nimmt.
Kurt Salamun: Ein Jahrhundertdenker. Karl R. Popper und die offene Gesellschaft. Wien, Graz, Klagenfurt: Molden 2018.