Der Protagonist des Romanes, D-503, schildert in einer Art Tagebuch das Leben nach dem großen, 200 Jahre zurückliegenden Krieg in einer Stadt, deren Struktur auf einer streng rationalistischen Basis beruht: Alles ist Normen unterworfen (sogar die Kaubewegungen pro Bissen sind mit 50 genau festgelegt), man lebt in gläsernen Häusern (deren Rollos einzig während der Kopulation heruntergelassen werden dürfen), geht spazieren in Vierer-Reihen und verehrt den „großen Wohltäter“, der für dieses unendliche Glück (das vor allem kein Unglück zulässt) verantwortlich zeichnet. Die Stadt ist durch eine Mauer vor der Außenwelt geschützt (hinter dieser Mauer scheinen anarchisch-urtümliche Menschen zu leben), man ist autark (weil man aus Erdöl – woher dies kommt bleibt ungeklärt – Nahrungsmittel herzustellen versteht), von der Vergangenheit wird einzig als von einem Zeitalter der Verzweiflung und des Unglücks gesprochen, das sich durch permanente Unsicherheit und Kriege auszeichnete.
D-503 ist der Baumeister des „Integral“, eines riesigen Raumschiffes, mit dem man anderen Lebensformen den Idealstaat und das Glück näherbringen will. Doch die Begegnung mit I-330 bringt den bislang so hervorragend funktionierenden Bürger aus dem Gleichgewicht (und ewig lockt das Weib): Ihre ein wenig andere Art fasziniert ihn und nach einem ersten sexuellen Abenteuer (das in dieser Form verboten ist, da man sich seine Geschlechtspartner zuteilen lassen muss) verfällt er ihrem Zauber völlig und wird mit einer Gruppe bekannt, die sich den Sturz des Wohltäters als auch ein sehr viel stärker gefühlsbetontes Leben zum Ziel gesetzt hat.
Doch der Umsturzversuch verläuft chaotisch – und der Staat versucht mittels neuer medizinischer Erkenntnisse die Ruhe wieder herzustellen: Alle werden aufgerufen, sich „freiwillig“ einer Operation zu unterziehen, durch die man seine Phantasie (und seinen Widerspruchsgeist) verliert. Auch D-503 fällt schließlich den allgegenwärtigen Wächtern zum Opfer; der letzte Eintrag zeigt uns einen geläuterten Baumeister, der seine vorhergehenden Tagebucheintragungen nicht mehr versteht: Reduziert auf seine Rationalität verleiht er zufrieden dem Wunsch Ausdruck, dass „wir“ siegen mögen.
Die Parallelen zum kommunistischen Einheitsstaat (das Werk wurde 1920 erstmals veröffentlicht, fand – welch Wunder – aber nicht die Zustimmung der Herrschenden) sind offenkundig und in ihrer vorausschauenden Weise erstaunlich. Kaum etwas vom totalitären Instrumentarium fehlt: Überwachung, Einheitlichkeit, Reduktion auf die Pragmatik (was hingegen nicht auftaucht sind Mächtige, die sich an ihre eigenen Vorgaben nicht halten: Der Wohltäter selbst erscheint konsequent). Dass der Roman aber trotzdem nicht wirklich zu beeindrucken vermag, liegt an der klischeehaften Gegenüberstellung von Rationalität und Gefühl, die keinerlei Nuancen zulässt und dadurch fast lächerlich wirkt. Hier der rationale Mathematiker (den sogar das imaginäre „i“ beunruhigt, weil es sich nicht rational auflösen lässt), dort die tanzenden, gefühlsbetonten Naturkinder (die außerhalb der Stadt Wohnenden haben teilweise sogar ihr verloren gegangenes Haarkleid wiedererhalten). Und Phantasie oder Kreativität wird einzig mit Kunst und Emotionalität verbunden, dass auch die Naturwissenschaft ohne derlei unmöglich auskommt bleibt undenkbar. Da diese strenge Schwarz-Weiß-Zeichnung nirgendwo relativiert wird, man nur mit Extremen konfrontiert wird, erscheint die Aussage des Romans platt und unbefriedigend. Aber Samjatin ist es trotzdem – als einem der ersten – gelungen, wenigstens teilweise den totalen Staat darzustellen: Dafür gebührt Lob und Anerkennung.
Jewgenij Samjatin: Wir. Berlin: Oberbaum 1994.
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