Dieser Tage erschien bei Suhrkamp eine zweibändige Auswahlausgabe der Briefe Marcel Prousts. Die Suhrkamp-Ausgabe beruht auf einer französischen Ausgabe, die von Françoise Leriche 2004 herausgegeben wurde; und diese Ausgabe wiederum beruht auf der grossen, 21 Bände umfassenden Correspondence, deren Herausgabe Philip Kolb kurz vor seinem Tod 1993 beenden konnte. Die Texte sind dabei nicht zu 100% übereinstimmend; einerseits tauchen bis heute immer wieder neue Briefe von und an Proust auf, von denen Françoise Leriche ein paar in ihre Ausgabe integriert hat, andererseits wichen offenbar die deutschen Herausgeber von Françoise Leriche ab, weil diese oft und im Detail auf Gegebenheiten der zeitgenössischen französischen Kultur und Politik eingeht, die die deutschen Herausgeber einem deutschen Publikum nicht zumuten wollten. Für mich war das Erscheinen der deutschen Ausgabe ein Grund, mir die von Françoise Leriche zu besorgen – einen dicken Ziegelstein, Seitenformat irgendwo zwischen A5 und A4, davon aber 1’350 Stück.
Eine gut ausgewählte und klug kommentierte Briefauswahl ersetzt eine Biografie – das gilt auch für die vorliegende Ausgabe. Mit wenigen Ausnahmen (ein paar Brief an Proust sind auch enthalten) finden wir nur Briefe von Proust, chronologisch sortiert. Ob ein Brief des 7-jährigen Proust an seinen Grossvater unbedingt nötig war, bleibe zwar dahingestellt. Aber spätestens ab 1889, als Proust versucht, gleichzeitig im mondänen Paris und im literarischen Leben dieser Stadt unterzukommen, werden seine Briefe interessant. Die Briefe sind nach Epochen geordnet, so können wir Prousts Leben gut nachverfolgen.
Als Proust einen Verleger für seine Recherche suchte, galt er als relativ wohlhabender Dandy und Nichtstuer – keinesfalls aber als ein literarisch ernst zu nehmender Mann. Kein Wunder, verweigerten sich ihm alle Verlagshäuser. Bei der Lektüre seiner Briefe können wir nun feststellen, dass der Nichtstuer Proust recht zielgerichtet vorging. Die Salons der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren nicht nur für die Dandys von grosser Wichtigkeit, sondern auch für die angehenden Literaten. Was man heute im Neu- und Manager-Deutschen ‚Networking‘ nennt, war schon damals unumgänglich, wenn man Karriere machen wollte. Und Proust, der sich immer als Schriftsteller empfunden hat, wollte Karriere machen.
Wir sehen auch, wie sich Proust immer wieder gegen Ansichten wehrt, die seinen grossen Roman À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) als eine einfache Ansammlung von Geschichten und Impressionen auffassen. Bei allem Hin- und Herschieben der einzelnen Teile, die Proust noch den Fahnenabzügen gedeihen lässt: Eine umfassende Gesamtstruktur des Werks ist für ihn immer gegeben. Vom Moment an, als Proust seinen Plan, einen Essay zur Ästhetik unter dem Titel Contre Sainte-Beuve zu schreiben, fallen liess, den Essay zunächst in eine kurze Prosa-Fiktion integrieren wollte (der Ich-Erzähler wird am Morgen von seiner Mutter geweckt und verliert sich ins Nachdenken über Sainte-Beuve), bis schliesslich seine Theorie des Sich-Erinnerns und der multiplen, miteinander nur über eine gemeinsame Erinnerung zusammenhängenden Ichs die Struktur eines Grossromans bilden sollte: Immer hielt Proust daran fest, dass hier ein grosses Ganzes vorliege. Auch gegen Interpretationen der Recherche als Schlüsselroman wehrte er sich immer: Keine seiner fiktiven Personen sei nur aus einer einzigen realen Person genommen.
Und so erleben wir in seinen Briefen den jungen Marcel Proust, der Eingang in die literarischen Salons sucht, und sich zu diesem Zweck ganz bewusst mit Robert de Montesquiou befreundet, dem Salongänger der Zeit. Zwar stand ihm zu dem Zeitpunkt der Salon der Prinzessin Mathilde schon offen; der aber hat seinen Zenith schon überschritten, es sind andere, auf die Proust aspiriert. Als Autor begibt er sich unter die schützenden Fittiche von Anatole France. Er verkehrt auch bei Alphonse Daudet, aber wichtiger in seinem Leben (und somit auch als Briefpartner) werden dessen beiden Söhne Léon und Lucien. Goncourt trifft er mindestens einmal bei einem Essen, das Alphonse Daudet veranstaltet; der alte Mann scheint aber keinen grossen Eindruck auf ihn zu machen, und Goncourt selber berichtet über jenes Essen nur, weil ein anderer, heute unbekannter Teilnehmer eine Schauermär über moderne Foltermethoden in Afrika aufzutischen hatte. Proust wird nicht einmal als Teilnehmer erwähnt.
Bei allem Opportunismus, der Proust auszeichnete, und ihn als ziemlich apolitischen Menschen erscheinen liess (er weigerte sich, sich zu Themen wie der in gehobeneren Gesellschaftskreisen überall vorhandenen Homosexualität, oder dem – im Gegensatz zur eher versteckt-latenten Homophobie der Gesellschaft – immer wieder – auch bei seinem Freund Léon Daudet – offen ausbrechenden Antisemitismus anders zu äussern als in dem, was er in seinem Roman dazu sagt), bei allem Opportunismus also, konnte er doch darauf hinweisen, dass er zum Zeitpunkt der Dreyfus-Affäre klar Stellung für Dreyfus und für Zola bezogen hatte. Was ihn im Übrigen bei seinen Versuchen, die grossen Salons zu erobern, durchaus behindert hatte – die tonangebenden Leute der Epoche waren antisemitisch eingestellt. Die Tatsache, dass er selber homosexuell und Sohn einer jüdischen Mutter war, hat die beiden Themenkreise für Proust nicht einfacher gemacht.
Daneben erlaubt die vorliegende Brief-Ausgabe auch Blicke auf den ‚privaten‘ Proust. Damit meine ich weniger seine grossen (homosexuellen) Lieben; diesbezüglich bleibt Proust ziemlich zurückhaltend. Aber wir erleben das verwöhnte Muttersöhnchen, das noch bis Mitte 30 bei Mama wohnt, und dann auch nur deswegen aufhört, weil seine Mutter stirbt. Wir erleben den in Sachen Finanzen völlig unbedarften Amateur-Spekulanten, der schon fast prinzipiell seine Aktien zum falschen Moment kauft oder verkauft – bis der aus wohlhabendem Haus Stammende zum Schluss seines Lebens praktisch pleite ist. Was ihn nicht daran hindert, täglich ins teure Ritz essen zu gehen.
Wir erleben den Hypochonder Proust, der sein ganzes Leben seinem Asthma unterordnet, von Tage andauernden Krisen erzählt, die ihn tagelang am Schlafen und Arbeiten hindern würden – während er in Tat und Wahrheit genau in solchen Epochen grosse Fortschritte an der Recherche verzeichnen konnte. Wir erleben zum Schluss seines Lebens einen zerfahrenen Mann, der sich immer wieder in der Dosierung seiner Medikamente irrt, womit er sich ein paar Mal an den Rand des Todes bringt. Wir erleben, wie Proust immer grössere Dosen an Aufputschmitteln nimmt, um seinen Roman noch fertig aus der Druckerpresse kommen zu sehen; wie die immer grösseren Dosen an Aufputschmitteln immer grössere Dosen an Seditativen erfordern, damit er doch endlich mal schlafen kann; wie sich der Teufelskreis schliesst, indem die Seditative nach immer mehr Aufputschmitteln verlangen. Man hat den Eindruck dass Proust im Jahre 1922 im Grunde genommen nicht mehr wollte, und seine Gesundheit und sein Leben ganz bewusst ruinierte.
Wundervolle Rezension. Einschüchternd kompetent. Spannend und voller Faszination zu lesen. Großartig!
Danke für die Blumen!