Emily Dickinson

Zu Lebzeiten hat sie kaum eine Handvoll ihrer Gedichte veröffentlicht. Sie hat sich schon früh von der Welt abgeschottet; ausser ihren engsten Verwandten bekam sie kaum jemand zu Gesicht. Sie kleidete sich am liebsten in weiss; in der Nachbarschaft galt sie deshalb als „das weisse Phantom“. Erst nach ihrem Tod, der 1882 erfolgte, haben ihre Geschwister und die paar wenigen Freunde, die sie gehabt hatte (und die mit ihr meist nur brieflich in Verbindung gestanden hatten) Emily Dickinsons Gedichte der Öffentlichkeit übergeben. Die ersten Ausgaben hielten es dabei noch für nötig, die Sprache dieser Gedichte zu glätten. Heute gilt Dickinson, zusammen mit Walt Whitman, als Begründerin der modernen, US-amerikanischen Lyrik.

Dickinsons Lyrik ist dabei völlig anders gelagert als diejenige Walt Whitmans. Keine langen, beinahe episch zu nennenden Zyklen, keine Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Geschichte. Dickinsons Themen sind vor allem die Natur und das Sterben – zwei der ganz grossen Themen der Lyrik über die ganze Welt hin. Ihre Gedichte sind selter länger als 30, 35 Zeilen (die ihrerseits auch nicht übermässig lang gehalten sind). Formal haben wir meist streng eingehaltenes Versmass vor uns, drei bis fünf Hebungen, meist ungereimt. Darin ist nichts Innovatives zu finden. Das Innovative ist erst im Satzbau (und der Grund, warum die ersten Herausgeber meinten, Dickinsons Sprache glätten zu müssen): Die Lyrikerin verwendet kaum Satzzeichen, bzw. als einziges Satzzeichen den Gedankenstrich. Das lässt ihre Sprache auf den ersten Blick sehr abgehackt erscheinen; auf den zweiten erkennt man allerdings, dass dieser Gedankenstrich meistens keinen Gedankensprung beinhaltet, sondern ein Strich ist, der eine Pause markiert – eine Pause, in der das lyrische Ich nachdenkt. Anakoluth kommt zwar bei Dickonsons Gedichten häufiger vor als in Alltags-Prosa, aber nicht so gehäuft, dass man von expressionistischer Schreibweise sprechen könnte. Auch der Begriff Impressionismus trifft es nicht ganz; obwohl man in vielen Fällen eben mit den Eindrücken beschäftigt ist, die das lyrische Ich gerade empfindet.

I heard a Fly buzz – when I died –
The Stillness in the Room
Was like the Stillness in the Air –
Between the Heavens of Storm –

The Eyes around – had wrung them dry –
And Breaths were gathering firm
For that last Onset – when the King
Be witnessed – in the Room –

I willed my Keepsakes – Signed away
What portion of me be
Assignable – and then it was
There interposed a Fly –

With Blue – uncertain stumbling Buzz –
Between the light – and me –
And then the Windows failed – and then
I could not see to see –

Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie Dickinsons Lyrik funktioniert. Es ist nicht der Tod, den sie hier thematisiert – es ist das Sterben selber! I could not see to see – solche kleinen scheinbaren semantischen Aberrationen und die Tatsache, dass wir als Leser in die lyrische Gegenwart hinein gezogen werden, weil diese Gegenwart nicht als Beschreibung da steht, sondern als Handlung bzw. als Leiden des lyrischen Ich, machen die schreckliche Anziehungskraft von Dickinsons Gedichten aus. Kein Wunder, ist dieser Autorin seit der ersten Veröffentlichung ihrer Gedichte in den 1890er Jahren ein steter Erfolg beschieden. (So weit natürlich bei Lyrik von Erfolg gesprochen werden kann.)

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