„Lavater lesen“ – eine Veranstaltung im Rahmen von «Zürich liest ’16»

Zürich und Lavater – das ist, zumindest aus der Sicht Zürichs, die Geschichte einer alten Hassliebe. Lavater ist bis heute einer der bekanntesten Zürcher; bis heute ist er – auch in seiner Vaterstadt – nicht unumstritten.

Die Zentralbibliothek Zürich bewahrt den literarischen und brieflichen Nachlass Lavaters auf; und die heutige Veranstaltung war auch ein Versuch der ZB, Lavater im Gedächtnis ’seiner‘ Stadt wieder etwas lebendiger werden zu lassen. Es las der Schauspieler und Rezitator Wolfgang Beuschel. Die Texte kannte ich allesamt nicht. Es war nichts aus Lavaters physiognomischen Schriften dabei, und das sind die einzigen, die ich kenne. So aber hörten wir die Nachricht von einem fatalen Vorgang den Pfarrer Lavater betreffend – die Geschichte, wie Lavater bei der Besetzung Zürichs durch die republikanischen französischen Truppen im Jahre 1799 von einem Soldaten angegriffen und verletzt wird, eine Geschichte, die sehr derjenigen ähnelt, die man später von Goethe erzählen sollte, als die napoleonischen französischen Truppen Weimar besetzten. Allerdings wird Lavater ernsthaft verletzt dabei. Noch ein weiterer Text befasste sich mit Lavaters Verhältnis zu den französischen Besatzern.

Lavaters Gedichte – jedenfalls die vorgelesenen – halte ich für absolut vernachlässigbar. Das Versmass stimmt zwar, aber schon bei den Reimen hapert es des öfteren. Und im Gegensatz zu Goethes Versen kann man diejenigen Lavaters auch nicht dadurch retten, dass man Lavaters Dialekt vorschützt. Lavaters Gedichte reimen sich auch nicht im Schweizerdeutschen.

So richtig aus sich herauskommen durfte der Rezitator dann beim letzten Text (ich bespreche jetzt nicht alle gelesenen Texte): Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten. Ein Pamphlet gegen einen Landvogt, in dem es von Ausrufezeichen nur so wimmeln muss, eine flammende Adresse an die Stadtzürcher Regierung, einen korrupten Landvogt endlich abzusetzen. (Lavater hat dieses Ziel übrigens erreicht.)

Mindestens so interessant wie die Lesung selber war auch die kleine Ausstellung im Lesesaal der Handschriftenabteilung: Originalbriefe Lavaters (er schrieb eine saubere und äusserst gut lesbare Handschrift), einige Erstausgaben seiner Werke und vor allem seine Handbibliothek für Freunde (ein grosses Buch, das, wenn man es aufklappt, nicht mit Seiten gefüllt ist, sondern mit 24 winzig kleinen Büchlein, jedes einem Buchstaben des Alphabets gewidmet und dann Karten mit Aphorismen zu einem Thema enthaltend, das mit diesem Buchstaben beginnt, wie z.B. Liebe – alle Kärtchen handbeschrieben; im Übrigen entsprechen diese Aphorismen in Form und Inhalt dann aber dem, was man von einem konservativen protestantischen Pfarrer und Bodmer-Schüler des ausgehenden 18. Jahrhunderts erwarten kann).

Konnte nun die Zentralbibliothek Lavater ’seinen‘ Zürchern wieder näher bringen? Ich fürchte, nein. Wir waren, wenn ich richtig gezählt habe, genau 24 Zuhörer. (Platz hätten drei oder vier Mal so viele gefunden.) Etwa 20 Zuhörer müssen 70 Lenze oder mehr auf dem Buckel gehabt haben. Vier junge Frauen waren allerdings auch präsent; ich habe sie für Studentinnen der Literaturwissenschaft gehalten und vermutet, dass an der Universität Zürich gerade ein Seminar über Lavater abgehalten wird.

24 Zuhörer – das wird nicht reichen…


Disclaimer: Ich habe Reise- und Verpflegungskosten für meinen Besuch dieser Veranstaltung aus eigener Tasche bezahlt. Wenn ich also behaupte, dass der Rezitator in grossartiger Form war, ist das ebenso meine unbeeinflusste Meinung, wie wenn ich behaupte, dass Lavater heute nur noch den Literatur- und Lokalhistoriker zu interessieren vermag.

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