Gustav Meyrink: Der Kardinal Napellus

Drei Kurzgeschichten, von Jorge Luis Borges für diesen Band seiner Bibliothek von Babel vereint.

J. H. Oberreits Besuch bei den Zeitegeln

Eine Geschichte über Leben und Tod. Vor allem darüber, wie man richtig leben soll. Des Ich-Erzählers Grossvater, der in hohem Alter erst gestorben ist, hat sich auf sein Grabmal nur das eine Wort vivo (= ich lebe) eingravieren lassen. Lange Zeit bleibt es dem Ich-Erzähler unerklärlich, was das bedeuten soll, bis er eines Tag auf einen alten Mann trifft, der sich als Mitglied der Gesellschaft der »Philadelphischen Brüder«, der auch sein Grossvater angehört hatte, outet. Der erzählt ihm von einer parallelen Welt, in der die Zeitegel leben. Zeitegel sind die Abbilder der hiesigen Menschen; Menschen allerdings, die ihre Gelüste aller Art offen ausleben. Des alten Mannes alter Ego zum Beispiel ist ein verfressener, versoffener und verhurter Fettsack, weil er jedes der diesbezüglichen Gelüste des ‚Vorbildes‘ in die Tat umsetzt – auch und gerade da, wo Dezenz und segesellschaftliche Vorgaben das Vorbild an der Tat gehindert haben. Als Konsequenz aus seinem Besuch bei den Zeitegeln hat Oberreit, so heisst der alte Mann, jedes menschliche Gelüste in sich abgetötet. Trotz des Anklang an buddhistische Lehren, wie sie Meyrink selber verfolgte, macht mir dieser Oberreit allerdings keinen glücklichen Eindruck. Und das macht diesen kurzen Text wirklich bedrückend.

Der Kardinal Napellus

Die Geschichte, die dem ganzen Büchlein seinen Titel gegeben hat. Sie weist das klassische Setting einer Gruselgeschichte auf: ein zerfallendes altes Schloss, bewohnt von einem alten Sonderling, der sich auf einer merkwürdigen, den übrigen Menschen nicht ganz klaren Queste befindet – hier ist es die Aufgabe, mittels eines ins Wasser des nahe gelegenen Sees gelassenen Lots dessen Tiefe herauszufinden. So denkt jedenfalls jene Gesellschaft von Wissenschaftern, die sich bei Hieronymus Radspieller eingefunden hat, und von denen jeder auch eine nicht alltägliche Queste auf sich genommen hat. Radspieller aber ist der, der die seine erfüllen kann. Damit habe er auch die menschliche Last des religiösen Wahnsinns abgeworfen, denkt er. (Für Meyrink scheint hier die Erbsünde – in einer Art Karikatur der von der Kirche – von allen Kirchen! – propagierten Moral darin zu liegen, in irgend einer Art und Weise religiös zu sein.) Als Beweis dient ihm, dass er den Führer einer von ihm in früher Jugend schon wieder verlassenen Sekte nicht mehr ständig vor Augen hat – eben den Kardinal Napellus, der auch Namensgeber einer Giftpflanze geworden ist. Doch einer der übrigen Wissenschafter sticht einen Globus auf, dessen Geheimnis er erforschen will, und darin findet sich – eine Statue des Kardinal Napellus. Radspieller wird verrückt; die Gesellschaft zerstreut sich. Bei einem Jahre später stattfindenen Besuch auf dem Schloss stellt der Ich-Erzähler fest, dass da keiner mehr wohnt. Schlossgarten und -mauern aber sind von jener giftigen blauen Blume überwuchert, die Kardinal Napellus genannt wird.

Die vier Mondbrüder

Die vielleicht vertrackteste Geschichte der drei hier versammelten. Der Ich-Erzähler – er gibt an, Kammerdiener des Grafen Chazal zu sein – erlebt die Versammlung einer geheimnisvollen Gesellschaft, der Mondbrüder. Es gibt deren nur vier; an ihren Versammlungen sitzen sie jeder jeweils an einem Punkt der Windrose. Was genau diese Brüder mit ihren Versammlungen bezwecken, wird dem Kammerdiener (und somit dem Leser) nicht klar. Jedenfalls erlebt er, dass einer der vier spurlos verschwindet und nur sein Anzug noch im gräflichen Kleiderschrank hängt. Bei einer dämonischen Beschwörung, der der Kammerdiener beiwohnt, wird er ohnmächtig. Als er einen Monat später erwacht, heisst es, einen Grafen Chazal habe es seit 1430 nicht mehr gegeben, und er, der Ich-Erzähler sei ein Schlafwandler, der in einem Anfall von Mondsucht vom Dach herabgefallen sei. In der Folge habe er sich jahrelang eingebildet, sein eigener Kammerdiener zu sein. Auch die vier Figuren der Mondbrüder hätten nie existiert. Der Ich-Erzähler nimmt das äusserlich gelassen zur Kenntnis. Nur er weiss, dass in seinem Kleiderschrank noch immer der Anzug jenes Mondbruders hängt, der so plötzlich verschwunden ist.

Während Meyrink in der ersten Geschichte eine m.M.n. etwas verquere buddhistische Doktrin verkündet, in der zweiten im Grunde genommen der Romantik eine Absage erteilt, indem er ihre eigenen Mittel verwendet, ist die dritte Geschichte relativ undurchsichtig. Vor allem der – m.M.n. ziemlich banale – Trick, den Ich-Erzähler zu einem wiedererwachten Träumer zu machen, verwirrt die Handlungsfäden und macht eine rasche Interpretation unmöglich. Insofern ist die letzte Geschichte, trotz des banalen Tricks, die beste dieses Trios.

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