Heinrich Christian Boie / Luise Justine Mejer: Briefwechsel 1776 – 1786. Band 2: Juli 1782 – Juni 1784

In den zwei Jahren, die dieser Band des Briefwechsels von Boie und Mejer umfasst, geschieht so einiges. Vor allem drei Grossereignisse sind hervorzuheben – bei einem davon sind Boie nur passiv und Mejer eigentlich gar nicht betroffen, es wird von aussen an sie herangetragen; beim zweiten sind allerdings beide betroffen, es ist auch sozusagen hausgemacht; das dritte wiederum spiegelt die präkere Situation der bürgerlichen, mittellosen Frau am Ende des 18. Jahrhunderts so präzise wider, dass es auch weit über die persönlichen und kontingenten Umstände interessiert.

Das erste Grossereignis ist der immer noch schwelende Konflikt zwischen Voß und Lichtenberg über (ich glaube) die Aussprache oder die Schreibweise eines altgriechischen Lauts. Lichtenberg hat Voß in einer Satire verulkt, was dieser nicht auf sich sitzen lassen will. Boie seinerseits hat wenig Lust, sein Deutsches Museum in diesen Streit ziehen zu lassen, selbst für seinen Schwager nicht. Obwohl er in allen Briefen ebenso wie Luise ganz klar auf Voß‘ Seite steht, will er aus seiner Zeitschrift kein Parteiblatt machen. Das gelingt ihm sogar einigermassen, selbst als Lichtenberg (und Heyne) auch ihn mit ihren Attacken streifen und das Verhältnis zum Schwager Voß leidet. Mit Heyne wie mit  Voß versöhnt sich Boie allerdings schon im Laufe der hier aufgezeichneten zwei Jahre wieder.

Grossereignis N° 2 ist ein sehr persönliches. Wie auch wenige Jahre später Beneke ist offenbar Boie dem Druck seiner Sexualität nicht gewachsen. Da er seit Jahren von Luise entfernt lebt, genügt es, dass eine hübsche dänische Witwe seinen Weg kreuzt, um ihn sogleich verliebt zu machen. Was eine kleine Liebelei hätte bleiben können, wird nun aber durch die Reaktion Luisens zu etwas ganz Eigenartigem. Sie nämlich, trotz einer Eifersucht, die sie erst im Nachhinein gesteht, fördert diese Liebe. Sich selber hält sie für ungeeignet, Boie zu heiraten – fehlt es ihnen doch beiden am Geld. So weit, so gut. Dann aber kann es Luise doch nicht sein lassen, auch sich selber in dieses Verhältnis einzubringen. Sie lässt aus den Haaren aller drei Beteiligten Ringe, Bilder etc. erstellen. Wenn man nicht wüsste, dass der keusche Boie im Leben nie an so etwas auch nur gedacht haben könnte: Man hat den Eindruck, dass hier – vor allem von Seiten Luisens – ein Ménage à trois angedacht wird. Das Ganze verkompliziert sich zusätzlich, als Boie – auf dem Punkt sich der Witwe zu erklären – einen Rückzieher macht. Die Briefe zu diesem Themenkreis nehmen einen grossen Teil der zwei Jahre ein, die Band 2 umfasst.

1785/1786 verlässt Luise ihr heimatliches Celle (sie schreibt übrigens immer Zelle), um als Abwechslung zu ihrem dortigen Alltagstrott bei Friederike Luise Stolberg-Stolberg ein paar Monate zu verbringen. Die Gräfin, wie Mejer sie in ihren Briefen dann meist nennt, führt ein literarisches Haus, wo von morgens bis abends gelesen wird; man lernt gemeinsam Sprachen etc. Doch für Luise Mejer ist das ständige Lesen und Lernen zu viel. Und noch schlimmer für sie ist die Tatsache, dass die Gräfin sie offenbar zur Gesellschafterin und Haushälterin auserkoren hat – selbstverständlich ohne bei Luise Mejer nachzufragen. Die Gräfin scheint sogar gewillt, mehr oder weniger offene Gewalt anzuwenden. Luise vergleicht ihren Zustand mit einer Sklaverei – nicht ganz zu Unrecht wohl. Die Geschichte wirft ein düsteres Licht nicht nur auf die Persönlichkeit der Friederike Luise Stolberg-Stolberg, sondern weit darüber hinaus auf die auch juristisch präkere Situation der bürgerlichen Frau ohne eigenes Vermögen: Sie war den Wünschen und Ansprüchen jener Leute, die sie aushielten, de facto völlig ausgeliefert. Gleichzeitig wirft es auch ein Licht darauf, wie wenig im Grunde genommen selbst ‚aufgeklärte‘ Adelskreise vom bürgerlichen Stand hielten – selbst wenn jemand, wie Mejer, aus ‚hübscher‘ Familie stammte. Sogar Friedrich (gen. Fritz) Stolberg, dessen Gedichte Wikipedia revolutionär-pathetisch nennt, der mit Goethe in der Schweiz reiste und mit ihm nackt-genialisch im Zürichsee badete, fand nichts an der Luise Mejer zugedachten Behandlung – so wenig wie sein Bruder Christian (der ja auch zu den Nackbadern gehört hatte).

Die Geschichte hatte für Boie und Mejer den positiven Effekt, dass beide nun mit ihrer gegenseitigen Liebe offen heraustraten. So endet sie mit einer Verlobung der beiden. (In der Folge bereitet Boie den gemeinsamen Haushalt vor, und es ist erstaunlich, welch eine Unmenge an Hausrat da gekauft werden muss. Ein Dutzend oder mehr Betten müssen mit Kissen, Decken, Bezügen u.ä. versehen werden. Ein Dutzend Stühle muss gekauft werden, obwohl schon ein Dutzend in Meldorf herumsteht. Drei komplette Zwölfer-Geschirr-Services müssen ergänzt werden, und alleine, was an Besteck anfällt, würde jede Besteck-Schublade des 21. Jahrhunderts zum Explodieren bringen. Dazu pflanzt Boie einen Obst- und Blumengarten an, wo alleine über 125 Fruchtbäume stehen. Er denkt sich allerhand Wege aus, um in Zukunft im Garten im Schatten spazieren gehen zu können und pflanzt seine Bäume dementsprechend an.)

Band 2 löst das Versprechen des Verlags, einen Einblick in die bürgerliche Kultur und Daseinsform des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu liefern, zur vollsten Zufriedenheit des Lesers ein.

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