Heinrich Gomperz war der Sohn des Altphilologen Theodor Gomperz, dessen dreibändige Geschichte der griechischen Philosophie auch heute noch gelesen wird (inhaltlich durchaus zu Recht, versucht Theodor Gomperz doch als einer der ersten, die alte Philosophie unter einem modernen Standpunkt zu betrachten, stilistisch ist sie allerdings gewöhnungsbedürftig oder etwas für Liebhaber einer altertümelnd-pittoresken Schreibweise). Auch Heinrich ist mit Arbeiten zur griechischen Philosophiegeschichte hervorgetreten, hat aber auch ein eigenes, teilweise an Mach und Franz Brentano angelehntes System entworfen (Weltanschauungslehre, von den geplanten vier Bänden sind nur die ersten beiden erschienen). Heinrich Gomperz war das Paradebeispiel eines assimilierten, gut bürgerlichen Juden, dessen Herkunft nur noch auf dem Papier bestand (er gab an, unmöglich an die Offenbarungen irgendwelcher Religionen glauben zu können), seine Familie hatte Verbindungen in höchste adelige Kreise, wobei er sich selbst weniger als Österreicher, denn als „Großdeutscher“ fühlte: Es war die deutsche Sprache, durch die er sozialisiert und geprägt war und er hielt das kleine Nachkriegsösterreich für ein entbehrliches Konstrukt.
Die Beiträge in diesem Buch zeigen, dass Heinrich Gomperz nicht ganz zu Unrecht als ein Eklektiker unter den Philosophen bezeichnet wurde (allerdings muss das nicht immer pejorative Bedeutung haben): Er hat von verschiedensten Philosophen für sein eigenes System der „Pathempirie“ (eine Erkenntnislehre, die ihr Hauptaugenmerk auf die Empirie richtet, das solcherart Erkannte dann einer emotionalen Bewertung und Bestimmung unterzieht) Ideen entliehen: Das geht von Hegel über Herbart und Brentano bis – und vor allem – Ernst Mach, dem er auch menschlich große Bewunderung entgegenbrachte. Außerdem war er auch lose mit den Vertretern des Wiener Kreises verbunden und organisierte selbst Gesprächsrunden, an denen – unter anderem – auch Karl Popper teilnahm. Und er hat sich – im Gegensatz zum Wiener Kreis – auch mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt (er war übrigens einer von zweien, deren Träume Freud nicht analysieren zu können meinte), versuchte sogar, das psychoanalytische Programm auf Sokrates anzuwenden, um allerdings zum Schluss zu kommen, dass die „Psychologie über die Geheimnisse der Einzelseele nicht sehr viel Licht verbreitet“.
Der für mich interessanteste Beitrag stammt von Heiner Rutte, der Gomperz‘ in den 30er Jahren erschienene Schrift „Die Wissenschaft und die Tat“ analysiert (diese Schrift ist als einzige aus Gomperz‘ Werk relativ leicht zugängig: Sie wurde in das von Ernst Topitsch herausgegebene und äußerst lesenswerte Buch über den „Werturteilsstreit“ aufgenommen). Gomperz zeigt sich hier als strenger Fallibilist (inwieweit hier eine Beeinflussung von Gomperz zu Popper oder umgekehrt stattgefunden hat wurde noch nicht untersucht), der jeglichen Letztbegründungsanspruch sowohl in deduktiver als auch induktiver Hinsicht verwirft. Dieser theoretischen Unsicherheit stellt er die „Tat“ gegenüber, die schließlich Fakten schafft; das Problem besteht darin, ob man einen rationalen Übergang von der Theorie zum Handeln herstellen kann. Gomperz neigt der Annahme zu, dass im Grunde jedem Handeln eine Irrationalität zugrunde liegt, der gordische Knoten dieser Handlungsunmöglichleit wird erst durch die Tat gelöst. Allerdings weist Rutte mit Recht darauf hin, dass dem Handeln als Faktum immer erst eine Überlegung vorausgeht und dass es daher diese Handlung nicht ist, die letztlich entscheidet. Entscheidend ist vielmehr, ob es für die Wahl einer Handlung (aus verschiedenen Handlungsalternativen) eine rationale Begründung gibt: Und dieses Problem wird von Gomperz vernachlässigt. Gomperz statuiert nur die Notwendigkeit der Tat, nur der „Handelnde wagt nach Gomperz den Sprung von den phänomenalen Erscheinungen zur Wirklichkeit des dauernd Seienden“. Dies ist aber fragwürdig, denn der Tat geht eine Form der „Erfolgserwartung“ voraus, die keineswegs mit einer absoluten Gewissheit verbunden sein muss. Gomperz‘ „Theorie der Tat“ würde also in absolute Skepsis, in Irrationalismus münden: Tatsächlich war ihm wohl nur daran gelegen zu zeigen, „daß selbst eine theoretische Rationalität der steten Wahrheitssuche mit permanenter Fehlerkorrektur hinstrebend auf das unerreichbare Fernziel endgültiger Gewißheit und Bewahrheitung (= Wahrheitsbesitz) nicht zu verwirklichen ist, weil die Willkür menschlichen Entscheidens und Handelns ihr zuwiderläuft und uns zu einer noch bescheideneren, noch eingeschränkteren Fassung unserer Rationalitätsansprüche […] zwingt.“
Sehr gut und scharfsinnig auch der Beitrag von Gerhard Schurz zu Poppers Aversion gegenüber der Induktion: Er zeigt, dass es gerade diese Aversion ist, die Poppers Programm inkonsistent erscheinen lässt, da auch Popper (bei der rationalen Entscheidung zwischen den Theorien) auf eine ganz pragmatische (immer auch induktivistische) Bestimmung der „besser bewährten Theorie“ nicht verzichten kann. Denn wie anders soll sich eine solche Theorie denn „bewähren“ als durch die Erfahrung – und wie anders könnte der Vergleich durchgeführt werden, wenn nicht über den empirischen Aufweis dieser „positiven Gründe“. Oder mit den Worten Poppers: „We have good reasons to believe that some of our present ideas are more truthlike than some alternatives“. Diese „good reasons“ beruhen aber auf einem pragmatisches induktiven Verfahren.
Zwei weitere Beiträge befassen sich mit den ästhetischen und musiktheoretischen Ansichten Poppers: Allerdings hat er keine entsprechenden „Theorie“ entworfen, sodass alle diese Ausführungen nur Stückwerk sind. Trotzdem sind gewissen Grundzüge von Poppers Denken auch in diesem Bereich erkennbar: Sein Versuch, zwischen systematischen und historischen „Gesetzen“ in der Musiktheorie zu unterscheiden, zwischen Notwendigkeit und historischer Faktizität lässt den Methodologen erkennen, seiner Ablehnung der expressionistischen Kunstrichtung (die im individuellen Künstler bzw. im Augenblick des Schaffens die entscheidenden Merkmale sieht) stellt er das – zwar immer vergebliche – Bemühen um Perfektion, die Arbeit am Kunstwerk gegenüber. Dass aber all diese Ausführungen ein wenig dürftig erscheinen liegt einfach darin, dass es an entsprechenden Schriften Poppers fehlt; die wenigen Kapitel der Autobiographie sind keine hinreichende Grundlage. Christian Fleck untersucht schließlich die „Erfolgsgeschichte“ der offenen Gesellschaft: Tatsächlich ist dieser Begriff zu einer (postiv besetzten) Metapher für Freiheit und Individualität geworden. Er zeigt aber auch Inkonsistenzen im Popperschen Denken auf, obwohl ich den Eindruck habe, dass er ihn teilweise bewusst missverstehen will: Poppers „piecemeal social engineering“ lässt sich selbstverständlich auch in totalitären Systemen nutzen, der entscheidende Punkt dieser Stückwerktechnologie besteht aber darin, unerwünschte Nebeneffekte politischer Ziele schon im Ansatz zu erkennen und nach Möglichkeit zu vermeiden. Er stellt sie explizit den historizistischen Utopien (wie dem Marxismus) gegenüber, die das Ziel zu kennen glauben und daher in der Wahl der Mittel keine Kritik mehr zulassen (selbst wenn die Mittel schlecht gewählt wären, das Ziel würde gemäß dem historischen Gesetz erreicht).
Ein schon deshalb lesenswertes Buch, weil es sich als eines der ganz wenigen mit Heinrich Gomperz auseinandersetzt. Allerdings wird nicht wirklich verständlich, warum der Zusatz im Titel „und die österreichische Philosophie“ gewählt wurde: Über diese erfährt man wenig bis gar nichts (außer der Erwähnung des Wiener Kreises), vielleicht auch deshalb, weil es eine solche Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Dafür hätte der österreichische Staat sich um die verfolgten und vertrieben Denker bemühen müssen: Und nichts lag diesem Staat ferner.
Martin Seiler, Friedrich Stadler (Hrsg.): Heinrich Gomperz, Karl Popper und die österreichische Philosophie. Amsterdam: Rodopi 1994.