Hans Frey: Fortschritt und Fiasko / Aufbruch in den Abgrund

In der Bildmitte, in einem weißen Kreis, von dem nur das oberste Segment gezeigt wird, steht in schwarzen Majuskeln der Name des Autors "HANS FREY". Dahinter, durch eine Fischaugen-Linse oval verformt, die Fassade eines Bürogebäudes. Diese wieder steht vor dem Hintergrund eines grün leuchtenden Nachthimmels, wie man ihn in Großstädten manchmal erlebt. Das Ganze ist ein Ausschnitt aus dem Buchcover.

Vor mir liegt ein ziemlich großes und entsprechend schweres Trumm von einem Buch: 17x25x5 cm groß und 1300 Gramm schwer. Es handelt sich um einen dieses Jahr (2025) herausgekommenen Sonderband aus der Reihe Utopien in der Science Fiction oder Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction, die seit ein paar Jahren beim Hirnkost-Verlag in Berlin erscheint, und deren bisher publizierten Bände wir hier alle schon vorgestellt haben – bis auf den allerneuesten, der gerade erst vor ein paar Tagen eingetroffen ist.

Hans Frey, der Autor dieses Sonderbands, war auch so etwas wie der Spiritus rector der Reihe. Von Haus aus Gymnasiallehrer interessierte er sich schon früh für die Politik. Er politisierte zunächst in der Juso, dann in der ‚normalen‘ SPD und war jahrelang Vertreter der Stadt Gelsenkirchen im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Ebenfalls früh entdeckte er seine Faszination für die Science Fiction. Nachdem er ein paar eigene Geschichten geschrieben hatte, merkte er, dass seine Stärke nicht im Schreiben von sondern im Schreiben über Science Fiction lag. Im Jahr 2016 begann er sein Opus Magnum – für das er auch einen Spezialpreis des Kurd Lasswitz-Preises erhielt – eine auf sechs Bände angelegte Geschichte der deutschen Science Fiction. Jeder Band war einer geschichtlich bzw. politisch definierten Epoche zugeordnet:

  • Fortschritt und Fiasko schilderte die Science Fiction vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs
  • Aufbruch in den Abgrund jene der Weimarer Republik und des Dritten Reichs
  • Optimismus und Overkill jene der jungen BRD bis zu den Studentenunruhen
  • Vision und Verfall die der DDR
  • Band 5 sollte die westdeutsche Science Fiction bis zur deutschen Einheit nachvollziehen und schließlich
  • Band 6 die Geschichte der deutschen Science Fiction an die Gegenwart heranführen.

Die Bände 5 und 6 erschienen nicht mehr; letztes Jahr, 2024, starb Frey an Krebs und konnte sein Werk nicht zu Ende führen, aber die ersten vier Bücher sind im Memoranda-Verlag nach wie vor erhältlich. (Memoranda, nebenbei, ist der Mutterverlag von Carcosa. Letzterer hat sich darauf spezialisiert, ‚klassische‘ internationale Science Fiction in neuen oder überarbeiteten Übersetzungen wieder auf Deutsch zugänglich zu machen. Wir haben hier auch schon Bücher dieses Imprints vorgestellt.)

Das vorliegende Buch umfasst also die ersten beiden Bände von Freys Literaturgeschichte. Es mit seinen rund 700 Seiten im Detail zu besprechen, ist gar nicht möglich – es sei denn, man verfüge über dasselbe immense Wissen wie Frey. Die meisten der Namen, die fallen, hatte ich nie gehört. Bei den paar, die ich kenne, verdanke ich das der oben genannten Reihe des Hirnkost-Verlags.

Vielleicht aber ein paar allgemeine Bemerkungen. In vieler Hinsicht ist vorliegendes Buch (eigentlich ja: sind vorliegende Bücher) nicht nur Literaturgeschichte sondern auch deutsche Realgeschichte. Dass Frey eine klare Vorliebe aufweist für linke und kritische Autoren wird angesichts seiner Biografie kaum verwundern. Manchmal übertreibt er es für mich allerdings, so, wenn er praktisch allen Produkten strammer Nazis eine literarische Qualität abspricht (was ich ihm ja auch glaube), während er bei linken Autoren immer etwas zu loben findet. Auf Grund der in der Reihe Utopien in der Science Fiction oder Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction bisher veröffentlichten Bücher wage ich allerdings zu behaupten, dass nicht alle ‚progressiven‘ Autoren zu ihrer allgemeinen kritischen Welteinstellung auch eine kritische Einstellung zum eigenen Schreiben hatten. Es gibt auch bei den Linken ‚Programmromane‘, die weder sprachlich noch inhaltlich wirklich überzeugen.

Ebenfalls kann bereits an oben genannter Reihe festgemacht werden, dass Frey eindeutig gesellschaftliche Utopien oder Dystopien mit Science Fiction identifiziert. Das fällt ganz besonders auf, wenn er die Ahnherren der Science Fiction vorstellt – nämlich die Gesellschaftsutopien von Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon (die meiner bescheidenen Meinung nach zwar utopisch sind, aber keine Science Fiction), bevor er dann zum ersten Autor kommt, der in der Neuzeit wirklich wissenschaftliche Erkenntnisse in sein utopisches Werk einfließen lässt: Savinien Cyrano de Bergerac. Weshalb dann gleich Daniel Defoes Robinson Crusoe folgt, leuchtet mir allerdings dann wieder nicht ein. Defoes Buch ist ein Loblied auf die Errungenschaften seiner Zeit, weist aber weder in gesellschaftlicher Hinsicht noch in Bezug auf die dargestellte Technik irgendwelche utopischen Züge auf. Last but not least, wenn ich schon beim Kritisieren bin: Frey versucht zwar, seine vorgestellten Romane nach gewissen Kriterien zu bündeln, aber das führt nicht sehr weit. Hinzu kommt, dass er immer wieder Zusammenfassungen von Erzählungen einfügt, die uns Lesende sehr rasch den größeren Zusammenhang verlieren lassen.

Aber es gibt auch Positives. So zum Beispiel, dass Frey auch die Heftromane (vor allem der Weimarer Republik) Revue passieren lässt – das deutsche Gegenstück zum US-amerikanischen Phänomen der „Dime Novels“ und der „Pulp Fiction“. (Was ich auch nicht wusste: Es gab zwischen den beiden Kriegen tatsächlich deutsche Autoren, deren Geschichten übersetzt und in jene US-amerikanischen Hefte aufgenommen wurden.) Und natürlich, schon gesagt, das riesige Ausmaß an Kenntissen über die deutsche Science Fiction seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Vor allem, wenn es um triviale SF geht, ist das Buch eine Schatzkiste. Bei der Romantik müsste ich wieder Abstriche machen. Da bringt uns Frey nur Altbekanntes und scheint auch genuin erstaunt gewesen zu sein, dass die Romantik neben der Blauen Blume sich auch intensiv mit den Naturwissenschaften der Zeit auseinander gesetzt hatte. Aber ich wollte in diesem Abschnitt eigentlich loben.

Fassen wir also zusammen: Dieses Trumm ist eine wahre Fundgrube an Informationen. Dank vieler Zusammenfassungen erspart man sich eine eigene Lektüre, die wohl in den wenigsten Fällen für Genuss-Lesende wirklich erbauend wäre. Auf Grund ihrer Informationsdichte aber liest man die beiden Bücher vielleicht besser punktuell und nicht von vorne nach hinten.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 27

1 Reply to “Hans Frey: Fortschritt und Fiasko / Aufbruch in den Abgrund”

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