Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 2. Band: Zweites Buch: Entdeckung der Natur und des Menschen – Lachende Zweifler – Niederlande, England

Auch Band 2 hätte wohl besser anders geheissen, z.B. „Der Nährboden, aus dem der europäische Atheismus entstehen konnte“ – denn Atheisten finden wir immer noch kaum in der Epoche vom ausgehenden Humanismus bis zur frühen Aufklärung. Mauthner hilft sich dadurch, dass er auch dieses Mal den Pantheismus zum Krypto-Atheismus erklärt, indem er in der Formel ‚Deus sive natura‘ den ‚Deus‘ herauskürzt. Indem er den weit gefassten Gottesbegriff der Deisten, deren Uhrmachergott die Welt vielleicht einmal kreiert hat, sie nun aber in Ruhe lässt und der nur eine ganz allgemeine Verehrung erfordert, zumindest als Proto-Atheismus auffasst. Indem er die einsetzende Toleranz in religionis als verschleierte Form des Deismus auffasst. Und natürlich bleibt Mauthners beliebtestes Auskunftsmittel bestehen: Jede Form der Abweichung vom orthodoxen Glauben impliziert für ihn zumindest einen Hauch von Atheismus. (Nur, dass es nun nicht mehr nur eine Form von Orthodoxie gab, die katholische, sondern auch eine lutheranische, ein calvinische, eine zwinglische – und zu allem Überfluss auch eine anglikanische entstehen sollte.)

Mauthner beginnt damit, dass er für die Zeit nach der Beendigung des Dreissigjährigen Kriegs eine zunehmende Verweltlichung des europäischen Denkens feststellt. Die allmähliche Entwicklung der Naturwissenschaften, wie wir sie heute kennen, wird dabei allerdings immer nur gestreift – mit Ausnahme der Entwicklungen in der Medizin, wo Paracelsus so ziemlich als erster auf den Gedanken kam, dass eine Krankheit etwas rein Körperliches sein könnte, dem man auch mit körperlichen Mitteln begegnen könnte, und der so am Beginn der heutigen Pharmazeutik stand. Parallel zur Entdeckung der Natur im menschlichen Körper kam die Entdeckung der Natur im Rechtswesen. Will sagen: Man entdeckte den Menschen als Rechtssubjekt, als Wesen, das für seine Taten und Unterlassungen ethisch-moralisch selber zuständig war. Das Recht Gottes hatte ausgedient.

Im Übrigen wird auch Paracelsus ziemlich kursorisch abgehandelt, was wohl daran liegt, dass dessen Schriften oft recht konfus sind. Mehr weiss Mauthner zu Cardanus zu schreiben, einem tollen Christen, der als Astrologe sogar die Nativität von Jesus Christus stellte, aber auch ärztlich tätig war und zu dessen Rettung der junge Lessing geschrieben hatte. Kopernikus und Bruno haben die Bewegung der Erde im All propagiert (und werden von Mauthner den Pantheisten zugerechnet), womit der Mensch als Mittelpunkt der Schöpfung ausgedient hatte. Gewissermassen wurde er dafür nun im Rechtswesen als Mittelpunkt entdeckt. Mehr politisch als juristisch argumentierte allerdings Machiavelli, der erste Name, den Mauthner im Dritten Abschnitt: Entdeckung des Menschen und seines Naturrechts nennt. Eine Ausnahmestellung nimmt wohl Thomas More ein, der ein durchaus gläubiger Mann war, kein Zyniker und Utilitarist wie Machiavelli, aber das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Rechtschaffen und rechtgläubig verweigerte er Henry VIII. die Gefolgschaft, als dieser aus politischen und persönlichen Gründen die Abspaltung der englischen von der römisch-katholischen Kirche betrieb. Bei Morus habe ich mich zum ersten Mal über Mauthner geärgert. Er beginnt eine Diskussion dessen grossen Werks Utopia, um von da in einem Exkurs zur, wie er es nennt, Legende von einem urchristlichen Kommunismus abzuschweifen, und über den französischen Zeitgenossen Mores, Jean Bodin, bei Campanella und seinem Sonnenstaat zu landen, worauf er wieder zu More zurückkehrt – hatte ich gehofft, denn Mores Utopia war meiner Meinung nach keineswegs fertig abgehandelt. Mauthner geht aber fröhlich weiter. Der nächste (vierte) Abschnitt ist den Juristen vorbehalten, die das Recht im modernen Sinn entwickelt haben, und deshalb für Mauthner in eine Geschichte des Atheismus gehören, weil sie Gott als Rechtssubjekt abgeschafft haben. Grotius‘ De jure belli et pacis von 1625 steht am Anfang. Auf ihn folgen Pufendorf und Thomasius.

Soweit, also bis und mit vierter Abschnitt, verfügt Band 2 von Mauthner Atheismus-Geschichte über eine bei allen Abschweifung einigermassen nachvollziehbare Struktur. Das ändert schon mit dem fünften Abschnitt: Die lachenden Zweifler. Zwar ist es zweifellos richtig, dass in die Geschichte des Unglaubens auch Leute wie Montaigne gehören. Was aber die Verfolgung der Hugenotten in diesem Abschnitt verloren hat, kann ich nicht nachvollziehen. (Ausser natürlich, dass sie, historisch-geografisch gesehen, zu der Zeit Montaignes gehört.) Dass ein Tyrannenmord gerechtfertigt sein kann, ist ebenfalls eine Entdeckung jener Zeit – motiviert natürlich durch die unter Cromwell erfolgte Hinrichtung von König Karl I. An vorderster Front der Tyrannenmörder kämpfte der damals noch weitgehend unbekannte Milton als Vertreter des Volksrechts gegen das (göttliche!) Königsrecht.

Gassendi als dem Wiederentdecker das antiken Materialismus ist ein eigener Abschnitt gewidmet. In diesem Abschnitt treffen wir auch zum ersten Mal auf den Spötter Voltaire, der nun immer wieder die von Mauthner angeführten Autoren kommentieren wird. Von Gassendi, der recht kurz abgehandelt wird, wie alle, die Mauthner als Naturwissenschafter betrachtet, geht es zum Skeptiker Bayle und dessen Wörterbuch, dem, wie Mauthner sagt, Hauptwerk des französischen Materialismus. Mit Bayle tritt auch zum ersten Male der Gedanke prominent an die Öffentlichkeit, dass auch Atheisten ethisch-moralisch gut sein können – die Drohung mit Strafe im Jenseits also überflüssig ist. Und Bayle predigt als einer der ersten Toleranz und wendet sich gegen die Verfolgungssucht Andersdenkender, die mit Augustinus in die christliche Religion Einzug gehalten habe. (Gottsched, der Bayle ins Deutsche übersetzt hat, habe ihn übrigens an einigen Stellen beträchtlich entschärft, so Mauthner.)

Mit dem Toleranzgedanken sind wir dann in den Niederlanden der Zeit nach der Befreiung vom spanischen Joch, wo zumindest unter den Gelehrten Toleranz und Indifferentismus ihren Platz fanden. Selbst Descartes (der nun häufig erwähnt, dessen Denken aber nicht erläutert wird, ähnlich geht es mit Leibniz!) fand eine Zeitlang Aufnahme daselbst. Spinoza wurde zwar von der jüdischen Synagoge ausgeschlossen, durfte aber gerade deshalb mehr oder weniger publizieren, was er wollte. Mauthner erörtert vor allem Spinozas Tractatus theologico-politicus (im Sinne einer Bibelkritik), weniger die Ethik. Eine ähnliche Rolle als Hort der Toleranz (immer einer relativen Toleranz, noch Hume wagte es nicht, seine – gemäss Mauthner atheistischen – Dialoge zu Lebzeiten zu veröffentlichen) spielte kurze Zeit später England. Hier nannten sich die frühen Denker der Toleranz ‚Free-Thinker‘ oder ‚Latitudinarier‘, also Leute, die über ein breit gefächertes Denken und Wissen verfügen. Unter den Freidenkern / Deisten spielt für Mauthner John Locke eine wichtige Rolle, und so wird sein Denken (als Sprachkritik!) ausführlich vorgestellt. Aber auch Cromwell wird abermals erwähnt (ich fürchte, Mauthner simplifiziert Cromwells Denken und Handeln da ein wenig), Milton abermals und sogar der heute ausserhalb seiner Heimat weitestgehend unbekannte Arzt und Politiker Sir Thomas Browne.

Ab hier allerdings mäandert Mauthner beträchtlich und es wird schwierig, ihm zu folgen. Da kommt nun der Zyniker Swift vor, dem die Yahoos lieber waren als die Menschen. Shaftesbury, der – obwohl in einer ganz andern Ecke stehend als Hobbes, Locke oder Hume – ebenfalls einen sehr abstrakten Gott verehrte und auch dadurch für Mauthner in die Gruppe der Abweichler gehört, weil er als erster und bis heute einer der wenigen, Humor und Satire als vollgültige Mittel zur Erkenntnis betrachtete. Wir finden nun auch Thomas Hobbes, der die Allmacht des Staates (und nicht der Kirche!) propagierte und deshalb ebenfalls zumindest ein Wegbereiter des Atheismus gewesen sein muss. Locke, dessen Sensualismus ein Vorbereiter des späteren Materialismus gewesen sein soll, und der den vernünftigen Menschen als Primat setzte. David Hume, der zum ersten Mal offen zu einem atheistischen Standpunkt sich bekannte. (Zugegeben, die Schrift erschien posthum; und ob hinter dem einen mehr oder weniger atheistischen Gesprächspartner in den Dialogen über die natürliche Religion tatsächliche Hume selber steckt, lässt sich genau genommen nur vermuten; die Sicherheit, mit der Mauthner dies behauptet, hat keinen Grund in der Sache.)

Noch viel material- und personenreicher als die Liste der nun folgenden Schlagwörter: Mauthner Atheismus-Geschichte. Stark auf biografische Fakten der einzelnen Denker fixiert, oft sprunghaft, inkonsequent und repetitiv. Aber süffig zu lesen.

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