François de La Rochefoucauld: Maximes

François VI. de La Rochefoucauld, Prince de Marcillac, nach dem Tod seines Vaters als dessen Nachfolger Duc de La Rochefoucauld und in dieser Eigenschaft Pair de France, suchte eigentlich keine Karriere als Schriftsteller. Dennoch hinterließ er ein großes literarisches Erbe – groß in Umfang wie in Gewichtigkeit. Er wird heute zu den französischen moralistes gezählt. Diese Gruppe ist etwas für die französische Literatur Spezifisches, das keine andere Literatur kennt. Der Begriff wurde auch erst um 1820 – also einige Zeit nach dem Tod des letzten moraliste – geprägt. Zu ihren Lebzeiten waren die moralistes keineswegs eine zusammengehörende Clique oder Gruppe – nur schon deshalb nicht, weil zu dieser Fraktion Autoren aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert gezählt werden. Montaigne wird ebenso dazu gerechnet, wie zum Beispiel La Bruyère oder Vauvenargues und am Ende der Kette steht Rivarol, der bereits vor der Französischen Revolution fliehen musste. Der Begriff der moralistes hat nun nichts mit Ethik oder Philosophie zu tun, sondern er weist auf eine alle Vertretern gemeinsame Eigenschaft hin: Sie sind präzise Beobachter und Schilderer menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft. Ich bin versucht, zu sagen, dass sie eine Art mikro-soziologischer und -psychologischer Studien am Menschen treiben – wenn nicht das Wort ‘Studien’ wiederum eine Form von wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Objekt implizieren würde. Die moralistes sind aber ‘nur’ feine Beobachter anderer und / oder ihrer selbst. Die Ergebnisse ihrer Beobachtungen legen sie nieder in mehr oder weniger kurzen Texten – Essays oder Aphorismen, wenn die Texte auf ein Pointe zugespitzt sind.

Dass sich La Rochefoucauld diesem Metier widmen würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden. Von Haus aus Militär und Politiker, hatte er das Pech, in den Bürgerkriegen der Fronde (1648-1653), die eigentlich ein Aufstand des Hochadels gegen den damals in Frankreich nahezu allmächtigen Kardinal Mazarin waren, auf der Seite der Verlierer zu stehen. La Rochefoucauld nahm an mehreren Schlachten teil, wurde schwer verwundet, verarmte und musste schließlich, da er sich zunächst weigerte, bei Mazarin um seine Begnadigung zu bitten, für eine Zeit ins Exil. Er durfte zwar später wieder zurückkehren, aber die Zeit seiner politischen und militärischen Tätigkeit war vorüber. Statt dessen frequentierte er gern und häufig die zeitgenössischen Salons, wo er die Menschen zu studieren begann. Seine Erkenntnisse über den Homo saloniensis legte er in spitzig-satirischen Aphorismen nieder – damit diese Gattung formal wie inhaltlich bis heute prägend. Wenn man La Rochefoucaulds Vorgeschichte kennt, wird es einen nicht wundern, dass viele seiner Aphorismen in höchstem Grad zynisch sind – er hielt offenbar nicht (mehr) viel vom Menschen im Allgemeinen und den Salonniers und Salonnières im Besonderen. Dass gerade dies sein Büchlein schon für seine Zeitgenossen zu einer gesuchten Lektüre machte, gehört zu den seltsamen Reaktionen des menschlichen Wesens.

Nur in einem Punkt wird La Rochefoucauld gerade hinaus böse und aggressiv, nämlich, wenn es um die Philosophie und die Philosophen geht. Darunter versteht unser Autor vor allem die antiken Philosophen, um genau zu sein, die antiken Stoiker, und da wiederum vor allem Seneca. Vor allem die stoischen Aussagen zum Tod, dass er nämlich den Menschen im Grunde genommen gar nichts angehe und deshalb auch nicht zu fürchten sei, brachten ihn einigermaßen in Rage. Er hatte wohl auf dem Schlachtfeld zu viele sterben sehen – und ein Tod in der Schlacht war schon im 17. Jahrhundert nichts Schönes.

Ich will hier nicht groß aus den Maximes zitieren, man muss sie selber lesen. Nur den allerersten Aphorismus, den er in späteren Auflagen als Motto vor das erste Kapitel setzte, will ich doch nicht vorenthalten, denn er fasst Inhalt der Sammlung und Haltung des Autors aufs Beste zusammen:

Unsere Tugenden sind, in den meisten Fällen, nur verkleidete Laster.

[Meine Übersetzung]

1 Reply to “François de La Rochefoucauld: Maximes”

  1. Von denen sind meines Erachtens La Rochefoucauld und Chamfort relevant, jeweils als Quintessenz des Ancien Régime, auf der Höhe und in der Dekadenz, sowie Saint-Simon und Helvétius, sofern auch jener voluminöse Chronist zu den „Moralisten“ gezählt wird. So eine nachträgliche Gruppierung ist ja einigermaßen willkürlich. Vauvenargues ist ebenso nett wie belanglos. Zu Rivarol hat mir einmal eine französische Studentin gesagt: „Sie kennen die unwichtigsten Leute.“ Sie meinte nämlich, ich müsste Lacan kennen. La Bruyère mag für seine Zeitgenossen interessant gewesen sein. Bei Montaigne teile ich den Unwillen meines weiland Königs, in „De la Littérature Allemande“ beiläufig geäußert: „… et, n’en déplaise aux admirateurs de Marot, de Rabelais, de Montaigne, leurs écrits grossiers et dépourvus de grâces ne m’ont causé que de l’ennui et du dégoût.“

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