„Also sprach Saint-Pol-Roux“ müsste man den Titel des vor mir liegenden schmalen Büchleins wohl ins Deutsche übersetzen. Das Buch ist 2022 in Paris beim mir ansonsten unbekannten Verlag Arfuyen erschienen und Teil einer ganze Reihe von solchen Büchern mit dem Titel: Ainsi parlait XYZ. Ob bei der Wahl des Reihentitels an Nietzsche gedacht worden war, kann ich nicht sagen. Wir finden keine Aussage zu allfälligen Auswahlkriterien. Auf der am Ende des Büchleins abgedruckten Liste von Autor:innen, die in die Reihe aufgenommen wurden, figurieren zwar auch welche deutscher Sprache, darunter Rilke, Luther, Novalis oder Meister Eckhardt – nicht aber Nietzsche. Vieles an der Auswahl lässt mich vermuten, dass an eine Art Sammlung von Sprüchen ‚spiritueller Führer (und ein paar weniger Führerinnen)‘ gedacht worden war.
Der (nur auf dem Buchcover aufgeführte) Untertitel meines Büchleins lautet auf Deutsch ungefähr „Sprüche und Lebensmaximen, ausgewählt und vorgestellt von Jacques Goorma“. Das ist derselbe Herausgeber wie der des bei Gallimard erschienenen und bereits vorgestellten Taschenbuchs. Wir finden auch hier keine Aussage zu allfälligen Auswahlkriterien. Der Unterschied ist, dass jenes Taschenbuch Saint-Pol-Roux’ zu Lebzeiten gedruckte Texte in vollständiger Form liefert, während für die vorliegende Ausgabe nur Rosinen heraus gepflückt worden sind. Nun konnten wir schon in beim Gallimard-Taschenbuch feststellen, dass vor allem der späte Saint-Pol-Roux nurmehr Notizen verfasste, also immer kürzere Texte schrieb, die dann durchaus auch schon mal zu eigentlichen Sentenzen bzw. Aphorismen geworden sind, die meisten davon zu ästhetischen bzw. kunsttheoretischen Fragen. Auch aus den späten Notizen figurieren Sentenzen in der vorliegenden Sammlung. So zerfällt diese in zwei Teile – einen, in dem die Texte aus dem größeren Zusammenhang gerissen wurden und einen, in dem sie an ihrem Ursprung schon keinen solchen Zusammenhang mehr aufweisen.
Sentenzen aus einem größeren Zusammenhang zu reißen, bleibt immer problematisch. Für die auswählende Person mag die Sentenz in sich geschlossen und selbstgenügend scheinen. Für ‚von außen‘ Kommende ist das aber nur selten der Fall. Denn die auswählende Person wird immer irgendwo im Hinterkopf den Zusammenhang des Satzes behalten und ihn unwillkürlich ergänzen. Das ergibt einen ‚tieferen Sinn‘, als ihn Außenstehende zu erkennen vermögen. Genau daran krankt auch die vorliegende Auswahl. Was aus dem Zusammenhang gerissen ist, klingt matt und uninteressant. Das gilt sogar dann, wenn man den einen oder anderen Zusammenhang aus dem Original ergänzen kann. Bei den von Saint-Pol-Roux schon als Sentenz notierten Sätzen sieht das ganz anders aus. Da ist der eine oder andere dabei, der eine wunderhübsche Pointe aufweist.
Natürlich ist der Mystiker Saint-Pol-Roux auch in der vorliegenden Auswahl unübersehbar. Was durch das Zu-Fetzen-Reißen seiner Texte aber verloren geht, ist seine Entwicklung von einem an christlichen Symbolen orientierten Mystiker zu einem eher pantheistisch zu nennenden, wie wir sie in unserem Aperçu zum Gallimard-Taschenbuch geschildert haben.
Und während die vollständigen Texte die Faszination Saint-Pol-Roux’ deutlich machen, die er für die moderne Naturwissenschaft und Technik empfunden hat, muss Goorma hier etwas überrascht feststellen, dass der Autor sich nicht nur für Platon und Ramon Llull interessiert sondern auch für Automobile und Filme. Dass er für sämtliche literarischen Genres, inklusive der Oper, schreibt, geht da schon fast selbstverständlich neben her.
Fazit: Ich kannte die Reihe vorher nicht, aber von Saint-Pol-Roux gibt es auch auf Französisch nur noch wenig Publiziertes. Das vorliegende Büchlein zumindest ist aber eindeutig etwas für Sentenzenjäger:innen, für welche, die in den Social Media schlaue Sprüche auf Schautafeln veröffentlichen wollen. Da hilft auch der Schwan auf dem Buchcover nicht.