Xavier de Maistre ist mit diesem kleinen Büchlein ein kleiner Geniestreich gelungen. Auf nicht ganz 100 Seiten bringt er es zu Stande, sowohl eine Hommage an Laurence Sterne unterzubringen wie Parodien auf verschiedene literarische Genres. Ausgangspunkt des Buchs ist eine (von de Maistre im Text nur angedeutete) Strafe von sechs Wochen Einzelhaft, die sich der damals 31-jährige Offizier der savoyardischen Streitkräfte in Turin einhandelte, weil er sich unerlaubterweise duelliert hatte. Als Spross eines alten Adelsgeschlechts (sein älterer Bruder war der konservative Politiker Joseph de Maistre – Xavier teilte dessen politische Ansichten, was dazu führte, dass er, nach der Niederlage Turins gegen die Truppen des revolutionären Frankreich, nach Osten floh und schließlich in russischen Diensten als Museumsdirektor arbeitete, bevor er seinen Lebensabend als Maler und Schriftsteller in St. Petersburg verbrachte, seine musischen Begabungen lebte er aber schon viel früher aus) als Spross eines alten Adelsgeschlechts, sagte ich, musste er die Haftstrafe nicht im Turm verbüßen, sondern durfte sie auf seinem Zimmer absitzen. (Das bedeutete auch, dass er seinen Bediensteten um sich haben konnte, sein Schreibzeug – und seinen Hund.) Man dachte wohl, dass er die Strafe während des Turiner Karnevals absitzen musste, sei Strafe genug für einen jungen Mann, der so auf die Möglichkeit, Bekanntschaften mit jungen Frauen anknüpfen zu können, verzichten müsse.
Das Büchlein ist im deutschen Sprachraum viel zu wenig bekannt, finde ich. Eine 2011 erschienene deutsche Übersetzung von Eva Meyer ist Stand des Abfassens dieses Aperçu selbst antiquarisch nicht aufzutreiben. Eine zu deren Erscheinen am 17. März 2011 erschienene Rezension von Anja Hirsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht, wenn ich der Zusammenfassung im Perlentaucher vertrauen kann, davon, dass de Maistre in diesem Buch sein Zimmer [n]icht unbestimmt schweifend, sondern ordnend betrachte. Das ist (jedenfalls so formuliert) einfach nur Quatsch und verkehrt die Intention des Textes in ihr Gegenteil.
Es stimmt, dass de Maistre, ein zumindest im praktischen Sinn durchaus kluger Kopf, anstatt sechs Wochen lang zu schmollen und ungeduldig auf das Ende seiner Strafe zu warten, sich hingesetzt hat und überlegt, was er nun mit dieser seiner Zeit anfangen solle. Schließlich kam ihm die Idee, dass er – wenn er schon nicht hinaus in diese Welt dürfe – zumindest diese Welt zu sich hinein holen könnte. Bei genauerem Überlegen war diese Welt ja sogar schon da – nämlich in Form seines Zimmers. Auf die Idee, die er nun hatte, musste man aber erst einmal kommen. (Und wir im Jahre 2023, die wir wohl alle nun ein wenig Erfahrung haben darin, was es bedeutet, über Tage oder Wochen auf kleinstem Raum sequestriert zu werden, können das unterdessen besser einschätzen als die Lesenden des Jahres 2011.) Nämlich, muss er sich gesagt haben: In die Welt hinausfahren, bedeutet Reisen – darüber berichten, heißt, einen Reisebericht schreiben. Die aber waren damals, im Gefolge der Reisen von Bougainville und Cook, gerade sehr in Mode. Statt eines Berichts von einer Reise um die Welt aber wollte er nun den Bericht einer Reise um sein Zimmer schreiben. Da war das Parodistische schon vorgegeben.
Und nun lässt er tatsächlich seinen Blick schweifen. Allerdings erst ab Kapitel IV – vorher unterhält er sich und uns mit seinen Überlegungen zu den Vor- und Nachteilen einer solchen Zimmerreise im Vergleich zu einer Weltreise. Sein Leitstern auf dieser Reise ist ja kein geringerer als Laurence Sterne. So, wie dieser die angebliche Autobiografie des Tristram Shandy weit vor dessen Geburt anfangen lässt, um auch danach sich in ständigen Abschweifungen zu ergehen, so fängt auch de Maistre mit seiner Reise lange vor der eigentlichen Reise an. Selbst so erfahren wir im Grunde genommen blutwenig über sein Zimmer, denn – ähnlich wie Sterne in seiner Empfindsamen Reise – ist die Reise für de Maistre im Grunde genommen nur ein Vorwand, um angesichts dieses oder jenes Objekts in seinem Zimmer seinen Gedanken nachzuhängen. Ob es nun sein Bett ist (wo er sich darüber auslässt, welches denn nun die besten – weil beruhigendsten – Farben für den Bettbezug sind), sein Schreibtisch, die Bilder an der Wand: Alles ist ihm Anlass für Abschweifungen. Selbst der Kaffee, den ihm sein Bediensteter am Morgen auf seinem Zimmer frisch aufbrüht, dient ihm so zu einem Vorgeschmack aufs Paradies.
Er lässt seinen Blick schweifen, habe ich oben gesagt. Dies tut er von seinem bequemen Armsessel aus. (Auch über die beste Art der Kleidung für seine Form des Reisens lässt er sich aus – nämlich ein Pyjama in den gleichen Farben wie der Bettbezug.) Das heißt nun keineswegs, dass er da still sitzen bleibt. Schließlich will er ja reisen – also sich bewegen. Deshalb kippelt er mit seinem Stuhl, so dass dieser nur noch auf den beiden hinteren Beinen steht und ruckelt mit Hilfe von Gewichtsverlagerungen langsam auf die Wand zu. Und wenn Erzählungen über zeitgenössisches Reisen damals unweigerlich auch einen Bericht über die Kutsche enthalten mussten, die auf den schlechten Wegen kippte und die Insassen in den Straßengraben leerte (eine durchaus reelle Gefahr übrigens: Goethe ließ sich durch so einen Unfall im Alter davon abhalten, das Weimarer Staatsgebiet nochmals zu verlassen!), so widerfuhr auch de Maistre auf seiner Reise rund ums Zimmer ein Unfall. Auch sein Stuhl kippte und leerte seinen Passagier aus, als dieser unachtsam geworden war, und de Maistre musste auf seinen Bediensteten warten, um sich wieder aufrichten zu können. Selbst über Schmerzen am linken Schlüsselbein klagte er!
Wenn er beim Anblick der Gemälde an der Wand über dem Schreibtisch darüber nachdachte, dass in der Literatur die Art des Schreibens geändert habe, während in der Malerei keinerlei Änderungen stattgefunden haben noch je stattfinden, so zeigt das zwar, dass de Maistre kein großer Kunsthistoriker war noch ein großer Denker, aber amüsant ist es allemal, wenn er im Halbschlaf einige der Autoren aus seiner Bibliothek in seinem Zimmer versammelt sieht, darunter Platon, Perikles, Hippokrates und Locke, die sich nun darüber unterhalten, ob seit der Zeit der alten Griechen in Medizin bzw. Politik Fortschritte gemacht worden sind. Die Antwort ist: nein, und das ist nicht nur eine Parodie auf das beliebte Genre der Totengespräche, es demonstriert auch de Maistres Skeptik gegenüber jeder Art von Fortschritt aufs Schönste. Dass er andererseits gesteht, bei Milton die Gestalt des Teufels am meisten zu mögen, zeigt wiederum, dass sein ästhetisches Gefühl durchaus fein entwickelt ist und sich nicht unbedingt an Konventionen orientiert.
Wo Verne in 80 Tagen um die Welt reist, reist unser Autor in deren 42 um sein Zimmer – und es ist noch die Frage, wer mehr erlebt hat dabei: Phileas Fogg oder Xavier de Maistre.
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