Vorauszuschicken ist, dass ich kein Altphilologe bin. A fortiori bin ich auch kein Spezialist für die Philosophie der Antike. Ich werde mich also hier nicht in die Diskussion über eine Echtheit dieses oder jenes Briefs auslassen, den man schon vor Jahrhunderten Platon zugeschrieben hat. Nur so viel: Die Kriterien, nach denen diese Entscheidungen getroffen werden, scheinen mir auf sehr wackeligen Füssen zu stehen. Entscheidungen auf Grund von Inhalt oder Stil beruhen immer darauf, dass man gewisse sprachliche oder philosophische Elemente im Vornherein als typisch oder eben nicht typisch für Platon anzuschauen sich entschlossen hat. Findet man sie nicht oder findet man sie (je nachdem), ist der Text als unecht anzuschauen. Das wiederum bestärkt den Forscher in seiner vorgefassten Meinung zu Platons Stil oder Philosophie – denn Gegenbeispiele findet er ja nur in unechten Texten. (Und ich habe hier absichtlich die männliche Form „Forscher“ verwendet.) Etwas besser stehen vielleicht die modernen Versuche da, mittels Computer sprach-statistische Auswertungen zu bestimmten Ausdrücken u. ä. zu erstellen. Auch da allerdings müssen Vorentscheidungen getroffen werden, welche Texte wahrscheinlich echt sind. Hinzu kommt, dass wir hierbei stillschweigend annehmen, dass, was wir vor uns haben, mit wenig Abstrichen für Abschreibfehler eines Kopisten u. ä., so von Platon persönlich stammt. Wie aber, wenn Platon tatsächlich so großmäulig und – wie die Spezialisten meinen – in schlechtem Stil geschrieben hat, wie der ein paar seiner Briefe es sind? Und einer seiner Schüler (oder vielleicht ein Akademiker aus der zweiten oder dritten Generation) nicht nur stilistisch geglättet, sondern auch inhaltlich eingegriffen hat, ja vielleicht gar selber Dialoge und Briefe im Namen Platons verfasst und veröffentlicht hat? Nach beinahe 2’500 Jahren könnte jede Spur davon in den Überlieferungen verloren sein.
Nein, Spekulationen zur Echtheit der Briefe bringen nichts. Ständig unter Kautelen über Platon schreiben allerdings genau so wenig. Deshalb werde ich, wie Platon selber „Sokrates“ als Spielfigur in seinen Dialogen führte, „Platon“ schreiben und von seinem Leben und seiner Philosophie reden, als ob sie, historisch gesichert, einen einzigen Menschen betreffen, von einem einzigen Menschen stammen.
Platons Briefe nun sind wohl von allen seinen Schriften in Bezug auf ihre Echtheit am meisten kontrovers diskutiert worden. Diesbezüglich sollten wir vielleicht auch bedenken, dass irgendwann vor einigen Hundert Jahren ein Mensch, der wohl auch nicht so dumm war, sie als sämtlich von Platon stammend zusammen gestellt hat. Und immerhin war dieser Mensch um einige Jahrhunderte näher an Platon und verfügte wahrscheinlich noch über Informationen, die zwischenzeitlich verloren gegangen sind.
Die Diskussion halte ich auch deswegen für nicht zielführend, weil die Briefe – mit einer Ausnahme – inhaltlich wenig bringen. Die meisten sprechen von Platons Aufenthalten in Syrakus zur Zeit der beiden Tyrannen Dionysios (I und II) und sind meist mehr oder weniger intelligente Rechtfertigungen dafür, dass Platon immerhin mehrmals dort war und jedes Mal grandioser scheiterte. Einmal bestätigt er den Erhalt eines Geschenks für sich und die Schüler seiner Akademie. Auch Philosophen sind in ihrem Alltag nicht immer im philosophischen Wolkenkuckucksheim zu Hause; auch Philosophen können mal ihren schlechten Tag haben und sich daneben benehmen.
Wäre da nicht die Ausnahme, könnten wir das Büchlein unbesorgt bei Seite legen. Die Ausnahme aber ist Brief VII. Der ist nicht nur der längste und, was seine Rechtfertigungen in Bezug auf seine Aufenthalte bei den beiden Dionysios betrifft, ausführlichste von allen dreizehn. Er enthält auch eine philosophiegeschichtlich brisante Stelle. Es ist in diesem Brief – und nur in diesem Brief –, dass Platon (wenn er denn der Verfasser war) explizit davon spricht, dass, was er in der Öffentlichkeit lehrt (und was also seine Dialoge enthalten) nicht das das Ganze seiner Lehre ist. Ja, es stellt eigentlich nur eine Art Präliminarien dar. Schriftliches, so das Argument des Briefs, könne von jedem Dahergelaufenen gelesen und verdreht werden, ohne dass sich die Schrift wehren kann. Mündliches hingegen könne auch verschwiegen werden und so vor Profanisierung geschützt werden. Deshalb werde seine eigentliche Lehre nur mündlich vorgetragen und nur in der Akademie vor Hand verlesenem Publikum. Diese mystisch-esoterische Seite Platons führt viele offenbar dazu, Brief VII für unecht zu erklären. (Den hermeneutischen Teufelskreis, in dem sich diese Leute bewegen, habe ich ganz am Anfang dieses Aperçu skizziert.) Sie passt in der Tat sehr schlecht zum Bild des rationalistischen Sokrates, mit dessen Hilfe Platon meist argumentiert. Andererseits wissen wir aus seinen Spät-Dialogen, dass Platon im Alter vermehrt der (Zahlen-)Mystik der Pythagoreer zuneigte. Eine eigentliche Lehre, die der Öffentlichkeit vorenthalten wird, wäre also durchaus möglich. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Frage, bei welchen Themen und wie weit diese mündliche Lehre anderes vorbrachte und über das hinaus ging, was Platon in den Dialogen veröffentlichte, eigentlich nur als Vermutung diskutiert werden kann.
Echt oder unecht? Das ist meiner Meinung nach nicht die richtige Frage. Die Frage sollte lauten: Bringt der Text philosophisch Relevantes? Und da bin ich sogar bereit, den Begriff ‚philosophisch‘ sehr weit zu fassen, nämlich im Sinne von ‚für mich, mein Leben, meine Lebensführung‘. Als Beispiel, wie einer (der vielleicht tatsächlich Platon war, vielleicht aber auch nur eine fiktive Figur mit dem Namen ‚Platon‘) versucht, die hohen Ansprüche seiner theoretischen Ethik in der Praxis des (politischen) Lebens umzusetzen, ohne sich dabei zu verbiegen, ist es zumindest besser gelungen als alles, was Immanuel Kant zweitausend Jahre später für seine Pflicht-Ethik ins Feld führen konnte.
Ob man die Briefe Platons nun insgesamt lesen soll oder nicht, ob sie sich lohnen, wage ich nicht zu entscheiden. Ich habe sie nun in toto gelesen – und es weder bereut, noch einen großen Gewinn daraus gezogen.
Die Briefe sind übrigens als PDF in der Übersetzung von Wilhelm Wiegand einsehbar unter: