Am 6. Juni 1875 kam Paul Thomas Mann in Lübeck zur Welt. Das bedeutet, dass sich sein Geburtstag dieses Jahr (2025) zum 150. Mal jährt. Da er als Thomas Mann zu einem der berühmtesten deutschen Romanciers geworden ist, auch den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, wird es wohl niemand wundern, dass schon gleich zu Beginn dieses Jahres das Feuilleton ordentliche Trommelwirbel losließ. Ich gestehe, die wenigsten Aufsätze gelesen zu haben – was vor allem daran liegt, dass ich mich nicht immer und jedes Mal von einer Paywall im Internet freikaufen kann. In der Zwischenzeit sind die Trommelwirbel etwas leiser geworden, ganz aufgehört haben sie nicht, immer wieder flackert irgendwo so ein Wirbelchen auf.
Das Jubiläum war für mich aber Anstoß, das schon lange gewälzte Projekt einer erneuten Lektüre von Thomas Manns großer Tetralogie Joseph und seine Brüder nun endgültig in Angriff zu nehmen. Ganz langsam natürlich, Roman um Roman – auf dass ich mir nicht den Magen verderbe.
Denn Manns Tetralogie ist auf ihre Art durchaus harte Kost. Sicher, schon die ersten paar Sätze des ersten Romans, gehen bei mir herunter wie Honig. Hier haben wir Thomas Mann auf der Spitze seines berühmten (für manche auch: berüchtigten) sprachlichen Könnens. Aber gerade dieses opulente sprachliche Mahl, das der Autor uns anrichtet, kann unter Umständen zu Übersättigung führen. (Thomas Mann hat die Tetralogie ja auch nicht in einem einzigen Jahr geschrieben – da gab es – auch durch äußerliche Ereignisse wie den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland bedingt – jahrelange Pausen im Veröffentlichungsprozess.) Seine Sprache ist für Mann allerdings nicht einfach nur L’art pour l’art – sie dient im Gegenteil dem ganzen Projekt, ist ein wichtiger Teil davon. Denn sein komplexer Satzbau ermöglicht Mann auch einen komplexen (wie Fantasy-Autor:innen heute zu sagen pflegen) Weltenbau.
Im Internet liest man überall, dass Thomas Mann zur Abfassung der Tetralogie angeregt worden sei durch eine Bemerkung Goethes in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit, wo es im vierten Buch von der Josephs-Erzählung im Buch Genesis 37-50 heißt: Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen. Diesen Satz findet man praktisch fast überall als Anregung für Mann zitiert. Seltsamerweise wird aber nirgends eine Quelle bei Thomas Mann angegeben, die eine solche Anregung belegt. Mag sein, es steht irgendwo in seinen Briefen oder Tagebüchern (die ich allesamt nicht gelesen habe), aber das Internet, selbst Wikipedia (das ansonsten dem Belegen von Hinweisen so großes Gewicht beimisst und selbst den Originalltext des Buchs Genesis tapfer hinterlegt hat) scheint diese Lücke nicht zu stören. Wie dem auch sei: Wenn Mann wirklich durch diesen Satz in Goethes Dichtung und Wahrheit angeregt gewesen sein sollte, zeugt das von einem gehörigen Stück Selbstironie – oder von einem gewissen Tunnelblick beim Lesen der Stelle. Der größere Zusammenhang bei Goethe nämlich ist folgender: Er wollte damals als Junge Hebräisch lernen (nämlich um das Frankfurter Judendeutsch zu verstehen, das auf der Gasse gesprochen wurde). Bei der Lektüre der hebräischen Bibel, aus der er die Sprache lernen sollte, stieß er auf die Geschichte Jakobs und Josephs.
Hier nun wird es, finde ich, interessant. Zunächst erzählt Goethe in der Autobiografie die biblische Geschichte ganz kurz nach. Dann fährt er weiter: Vielleicht möchte jemand fragen, warum ich diese allgemein bekannten, so oft wiederholten und ausgelegten Geschichten hier abermals umständlich vortrage. Die rhetorische Frage führt ihn zunächst zu Reflexionen über sich selber – wie fast immer in Dichtung und Wahrheit. Auf Joseph zurückkommend, findet er bei diesesm Jakobs Gewerbsinn ins Riesige vergrößert (Thomas Mann wird das aufnehmen). Dann erst folgt der oben bereits zitierte Satz mit der für den alten Goethe so typischen Wortwahl des höchst Anmutigen. Goethe hat also bereits geliefert, was er in seinem Satz zu fordern scheint. Mehr noch: Er hat es nicht nur in seiner Autobiografie geliefert, er erzählt uns in eben dieser Autobiografie, wie er als Knabe aus der Josephs-Erzählung einen ganzen Roman geformt habe:
Aber nun fand ich eine prosaische Behandlung sehr bequem und legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun suchte ich die Charaktere zu sondern und auszumalen, und durch Einschaltung von Inzidenzien und Episoden die alte einfache Geschichte zu einem neuen und selbstständigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freilich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt nötig sei, und daß dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen könne. Genug, ich vergegenwärtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinste Detail, und erzählte sie mir der Reihe nach auf das genauste.
Besser könnten auch Thomas Manns Josephsromane nicht umschrieben werden! Falls Thomas Mann Goethes Autobiografie wirklich gelesen hatte, musste er sich also dessen bewusst sein, dass er im Grunde genommen wiederholte, was bereits das Kind Goethe getan hatte (und offenbar keiner Überlieferung an die Nachwelt tauglich hielt). Sofern er die Stelle bei Goethe wirklich genau im Kopf hatte, kommt etwas Spielerisches, in hohem Sinn Ironisches zum Zug bei unserem Nobelpreisträger.
Spielerisch wirkt auch der ganze Text. Thomas Mann spielt. Er spielt, wie schon gesagt, mit der Sprache. Das kann ein relativ einfaches Spiel sein – so, wenn sein ältester Bruder den Joseph mit Begriffen bezeichnet, die eindeutig ‚ins Archaische übersetzte‘ Schimpfwörter für Homosexuelle sind. Da sind aber auch raffiniertere Sprachspiele: Seine Sprache erlaubt Mann zum Exempel ein Spiel mit Erzählzeit und erzählter Zeit. Sie erlaubt ihm ein komplexes Spiel aus Rückblenden und Vorausschauendem – manchmal im selben Satzteil. Sie erlaubt ihm ein Gemengelage an Mythologien und Götterwelten vor den Lesenden auszubreiten (denn weder Jaakob noch Joseph sind bei ihm so monotheistisch veranlagt, wie uns das 1. Buch Mose glauben machen will). Sie erlaubt ihm auch, Joseph, der später in eine Grube geworfen werden wird, bereits jetzt zu einem Vor-Bild Jesu zu machen, der ebenso auferstanden ist. Das gilt selbst für seinen Vater Jaakob, denn schon in den Geschichten Jaakobs gibt es diese Szenen, in denen sich der Patriarch völlig erniedrigt, nur um zum Schluss triumphierend dazustehen. Ein Leitmotiv also, das sich durch den ganzen Roman zieht. (So, wie wiederum die Technik des Leitmotivs ein Leitmotiv im gesamten künstlerischen Schaffen Thomas Manns darstellt.)
Der erste Teil der Tetralogie um Joseph und seine Brüder ist nicht der längste. Aber man kann sich schon daran literarisch betrinken. Man sollte als Erstlektüre von Thomas Mann vielleicht nicht zu diesem Text greifen, aber man sollte die Tetralogie unbedingt gelesen haben. (Und sei es nur, um zu erfahren, was man mit der deutschen Sprache so alles anstellen kann.)
Wow, cool. Ich hatte Joseph und seine Brüder vor ca. 20 Jahren gelesen und empfand es immer als einen der Gipfel in meinem Lese-Leben, eigentlich gleichzusetzen mit Proust / Verlorene Zeit (vor 3 Jahren gelesen) oder, wie ich finde, Bolano und 2666. Nun überlege ich auch immer wieder, welche meiner Bücher ich nochmal lesen würde (denn als Jugendlicher habe ich meine Lieblinge immer mehrmals gelesen). Auf Joseph wäre ich nie gekommen, nun aber doch. Danke!
Soweit ich mich erinnere, ist im 1. Buch der Prolog drin: quasi das alte Testament auf 50 Seiten zusammengefasst BIS zu Jaakob und dann seinen Söhnen. Ich fand ja immer schon, daß man kaum jemand diese Tetralogie empfehlen kann, weil die meisten da draußen ja mit 300 Seiten überfordert sind (geschweige denn mehrere Tausend, wie hier). Aber der Prolog, den empfahl ich immer (aber natürlich las das niemand).