Hans Sluga charakterisiert einleitend die analytische Tradition in der Philosophie von ihrer Entstehung bei Frege/Russel/Moore/Wittgenstein bis zu den von ihm mit Skepsis betrachten sprachanalytischen Theorien der Gegenwart. Er wendet sich dabei vor allem gegen Michael Dummett und dessen Buch „Ursprünge der analytischen Philosophie“, in dem die analytische Tradition unzutreffend auf rein sprachphilosophische Untersuchungen verkürzt würde. Tatsächlich ist der philosophische Hintergrund sehr viel weiter gesteckt: Er reicht von der reinen Logik über die Mathematik, den Empirismus und das erkenntnistheoretische Induktionsproblem (und damit der Wissenschaftstheorie) bis zu den relativistisch anmutenden Untersuchungen des späten Wittgenstein und der Sprechakttheorie. Und die analytische Philosophie ist auch keine, wie Dummett suggeriert, anglo-österreichische Angelegenheit: Schon im Wiener Kreis fanden sich Philosophen aus den unterschiedlichsten Ländern zusammen (Tschechen, Österreicher, Deutsche, Ungarn), außerdem gab es starke polnische (von seiten der Logiker um Lukasiewics) als auch französische Einflüsse (Pierre Duhem, dessen wissenschaftstheoretische Überlegungen in der Duhem-Quine-These später noch Beachtung fanden). Offensichtlich war die analytische Philosophie eine der ersten, nicht national orientierten Schulen; gerade das dürfte für ihren großen Einfluss nach dem Zweiten Weltkrieg – u. a. (neben der Vertreibung ihrer Mitglieder) – ausschlaggebend gewesen sein.
Marie Jahoda stellt in einem äußerst klugen Vortrag ihr Konzept der „Sozialpsychologie“ vor, in dem sie für einen vorsichtigen und überlegten Umgang mit Theorien (die häufig realitätsfremd sind bzw. nur als Subsumptionen taugen) plädiert und sich nicht auf die individuelle oder kollektive Sichtweise festlegen lassen will. Anhand von drei Fallbeispielen (Intelligenzfaktoren – Vererbung oder Umwelt?; Nationalismus; Das hohe Alter) demonstriert sie die Gefahren einseitiger Betrachtungsweisen und plädiert in jeder Form der Sozialforschung für die „Nähe zum Menschen“. Es gibt kein „entweder – oder“: Man entscheidet also nicht zwischen Feldforschung und Experiment, man kann in der Soziologie nicht mit Gesetzen arbeiten, die jenen in der Naturwissenschaft vergleichbar wären, sondern immer nur mit zeitlich beschränkt gültigen Annahmen oder etwa (in der Intelligenzforschung) keine prozentuellen Angaben für den Einfluss der Vererbung und der Umwelt liefern: Sie zitiert hier Donald Hebbs Paradoxon, dass die Intelligenz zu 100 % genetisch bedingt ist und zu 100 % der Umwelt zuzuschreiben. Intelligenz entfaltet sich unter bestimmten Umständen, sie ist sozial und individuell bedingt. – Im Grunde kann man ihre Ausführungen dahingehend zusammenfassen, dass im sozialwissenschaftlichen Bereich es mehr als überall sonst Forscher bedarf, die neben theoretischer Intelligenz auch das nötige Maß an Hausverstand mitbringen und die eine Ahnung vom Leben jener haben, die ihnen als Untersuchungsobjekt dienen (oder aber die entsprechenden empathischen Fähigkeiten mitbringen).
Zwei Beiträge befassen sich mit Karl Popper bzw. dem Kritischen Rationalismus (die Vorträge wurden aus Anlass des Todes Poppers 1994 gehalten). Hans Albert beschreibt in gewohnt souveräner Weise die Grundprinzipien des KR, den Fallibilismus, die Zurückweisung der Induktion, die Falsifikation als Abgrenzungskriterium usf., aber auch das gescheiterte Poppersche Projekt der „Wahrheitsnähe“ und die „Drei-Welten-Theorie“ (ich kann mich an keine Schrift Alberts erinnern, die diese Theorie ansonsten erwähnt). Die Distanz zu diesem Projekt wird denn auch in einigen wenigen Sätzen deutlich: „Vor allem die These der Existenz einer autonomen dritten Welt ist auf scharfe Kritik gestoßen, da sie in der von Popper vorgebrachten Form offenbar zu Widersprüchen führt. Es fragt sich daher, ob die Analyse des objektiven Aspekts der menschlichen Erkenntnispraxis auf die trialistische Ontologie der Popperschen Spätphilosophie angewiesen ist.“ Hans-Joachim Dahms schildert in seinem Vortrag die Entstehungsgeschichte seines (ausgezeichneteten!) Buches zum Positivismusstreit: Die u. a. in der Analyse des Unverständnisses seiner Position als linker Studentenvertreter und gleichzeitiger Anhänger einer positivistisch gefärbten Philosophie zu suchen war. Die Selbstgefälligkeit marxistischer Denker kommt in diesen Auseinandersetzungen immer wieder zum Vorschein: So bei Horkheimer, der sich einerseits über angebliche faschistische Tendenzen im Umfeld des Wiener Kreises auslässt (zu einem Zeitpunkt, als etwa Marie Jahoda für ihren Widerstand festgenommen wird) und der gleichzeitig kein Wort über die Massenhinrichtungen bei Stalins Säuberungsaktionen verliert oder auch den Hitler-Stalin-Pakt (wie später die kommunistische, heute die russische Führung) totschweigt.
Dem ebenfalls 1994 verstorbenen Paul Feyerabend ist ein weiterer Nachruf gewidmet: Es ist eine eher hilflose Apologie über jemanden, der solides philosophisches Denken für ein Kokettieren mit anarchistischen und dadaistischen Denkmustern opferte und der Provokation um der Provokation willen sich selbst zum enfant terrible stilisieren wollte. Der Preis waren peinliche, teilweise lächerlich anmutende Ergüsse über „freies Denken“ und – auf die Unhaltbarkeit seiner Ausführungen hingewiesen – Reaktionen, dass das alles doch „so ernst nicht gemeint gewesen sei“. Im übrigen hört man heute nichts von der damals vielgepriesenen relativistischen Wahrheitsauffassung: Denn jetzt, wo sich Fake-News größter Beliebtheit und beachtlicher Bedeutung erfreuen, entdecken auch die aufgeschlossenen Anarcho-Philosophen von damals, dass es durchaus kritisch-rationale Bewertungskriterien gibt, um Tatsächliches von Erfundenem zu unterscheiden und dass der Relativismus als solcher nur als ein dümmliches, philosophisches Hirngespinst für all jene dient, die sich auch einmal für einen Tag der geistigen Avantgarde zuzählen wollten.
Beachtlich ist der Beitrag von Michael Friedman über Carnaps „Der logische Aufbau der Welt“. Dieses doch etwas sperrige Werk wird hier wunderbar klar analysiert, seine Nähe zum Neukantianismus (Carnap promovierte bei Bruno Bauch) herausgestellt. Die für mich klarste und prägnanteste Darstellung des „Konstitutionssystems“, die ich je gelesen habe und die es verdienen würde, als der Einführungstext zur Philosophie Carnaps zu dienen. Ein wunderbares Beispiel dafür, dass man schwierige Zusammenhänge immer auch klar und verständlich darzustellen vermag.
Dagfinn Föllesdal ist mit einer Analyse zur Öffentlichkeit der Sprache vertreten. Er betont (für die Bedeutungstheorie), dass es gerade diese Öffentlichkeit ist, die den Worten, Sätzen Bedeutung verleiht und wendet sich damit gegen eine Entwicklung von Quine, der – einer Skepsis wegen, die sich auf eine angeblich schwer begründbare ontologische Gemeinsamkeit der Sprecher gründet – den entscheidenden Punkt in den Sinneseindrücken (in der Affizierung der Nerven) sieht. (Selbstredend wird als Beispiel wieder einmal das ubiquitäre Kaninchen „Gavaigai“ bemüht.) Ich stimmte hier Föllesdal zu, obgleich auch er nach meinem Dafürhalten auf das „ontologische Problem“ (das ich weniger als Problem denn als Voraussetzung betrachte) ein zu großes Augenmerk richtet. So treibt ihn etwa die Reifikation um und er glaubt drei Merkmale von Gegenständen auszumachen – u. a., dass wir uns in der Beurteilung des Gegenstandes oft irren. Gerade dieses „oft“ scheint mir einen typischen sprachontologischen Fallstrick zu verbergen: Wir irren uns nämlich oft nicht. Natürlich sind wir fehlbar, aber in der Regel funktionieren Kommunikation und Bedeutung in dieser Kommunikation reibungslos, die Fälle des hinter einem Baum verborgenen Kaninchens mit dem Eingeborenen sind konstruierte Fälle, die auf Ausnahmen hinweisen. Der Grund für das Unbehagen (und das Verlegen der Bedeutungserzeugung in das Subjektinnere) bei Quine liegt – wie erwähnt – darin, dass er dem anderen nicht die eigene Ontologie unterstellen will. Mir scheint dies aber das geringere Problem zu sein: Denn wir haben guten Grund zur Annahme, dass unsere Kommunikationspartner grosso modo unsere Ontologie teilen und wir daher eine gemeinsame Basis haben. Die Gründe für die Zweifel scheinen mir vergleichbar mit den solipsistischen Auffassungen: Selbstredend sind diese insgesamt kohärent, allerdings erhalten sie in dem Augenblick einen seltsamen Anstrich, in dem sie geäußert werden. Denn warum sollte das Subjekt sich selbst bzw. seiner subjektiven Welt sein eigenes Sein erklären wollen? Ebensowenig scheint es mir begründet, wenn dem anderen eine grundlegend unterschiedliche ontologische Sichtweise unterstellt wird (die Tatsache, dass wir uns eben oft nicht irren, sondern problemlos Übereinstimmung erzielen, scheint diese Auffassung zu stützen), wobei mit der Verlagerung in Richtung Wahrnehmung ohnehin nichts gewonnen würde: Denn auch hier unterstelle ich konforme Ontologien.
Der letzte Beitrag (allerdings habe ich nicht alle erwähnt: So jenen von Elisabeth Nemeth zu Edgar Zilsels „Geniereligion“, der dessen Position mehr oder weniger referiert oder den von Jesus Padilla Galvez über die Inkompatibilitäten zwischen Carnaps Metalogik und der Kritik Gödels, der allzu technisch ausgefallen ist) von Kurt Baier über den Gesetzes- bzw. den Moralbegriff ist ein sprachlich unausgegorenes Konstrukt mit trivialem Ergebnis (warum dieser Beitrag in diese „lectures series“ überhaupt aufgenommen wurde, bleibt unklar: Es gibt jedenfalls keinen Bezug zu den Problemstellungen des Wiener Kreises). Baier trennt Moral (die er mit dem Naturrecht gleichsetzt) und Gesetz und versucht dann naturrechtliche und rechtspositivistische Überlegungen in Einklang zu bringen. Dabei hätte es nicht so vieler Worte bedurft: Selbstverständlich lässt sich über den Inhalt des Naturrechts keine Übereinstimmung erzielen und selbstverständlich wird in den Augen einiger (oder auch vieler) das positive Recht den individuellen Moralvorstellungen widersprechen. (Baiers „Lösung“ dieses Problems besteht darin, dass er Institutionen schaffen will, die beide Bereiche einander annähern, eine wahrlich profunde Einsicht.) Es liegt auf der Hand (in einem liberalen Rechtsstaat), dass Moral und Gesetz einander wechselseitig beeinflussen und sie sich – idealerweise – so weit annähern, dass die Gesellschaftsmitglieder keinen Widerspruch zwischen moralischen und gesetzlichen Forderungen verspüren. In realiter aber bleibt eine bestimmte Divergenz immer aufrecht – und das ist auch gut so: Denn auf diese Weise können rechtsstaatliche Prinzipien immer wieder modifiziert werden (allerdings: Ob zum „Guten“ oder „Schlechten“ wird wieder im Auge des Betrachters liegen). Wir landen hier bei ethischen Grundsatzproblemen, die sich mangels absoluter Werte nie werden endgültig entscheiden lassen: Wir können nur unsere Vorstellungen vergleichen und über die Mittel zur Durchsetzung derselben einen rationalen Diskurs führen. Mit offenem Ergebnis …
Ein teilweise sehr gelungener Sammelband – mit den unvermeidlichen Ausreißern, der – im Gegensatz zu vergleichbaren Publikationen – im Buchhandel sogar noch erhältlich ist.
Friedrich Stadler (Hrsg.): bausteine wissenschaftlicher weltauffassung. lectures series/vorträge des Insituts wiener kreis. Wien, New York: Springer 1997.