Heute vor 175 Jahren kam in Ernstthal, das damals noch nicht durch den Sachsenring bekannt war, sondern nur ein verhältnismässig kleines Kaff in Sachsen, ein gewisser Karl May zur Welt – und mit ihm eines der seltsamsten Phänomene der Literaturgeschichte. Sofern man ihn zur Literatur zählen will, was oft nicht der Fall ist.
May war von Haus aus Grundschullehrer; eine dumme, bis heute nicht völlig aufgeklärte Geschichte kostete ihn Job und Lehrerlaubnis. Dass er die Schriftstellerei entdeckte, rettete ihn vor einer bereits begonnenen Karriere als Berufsverbrecher. Dass der Schriftsteller May den Pädagogen May nicht vergessen konnte, bescherte uns zwar mit Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah eine der schillerndsten Figuren der Trivialliteratur, dem erwachsenen Leser aber auch ein gerüttelt Mass an Langeweile.
Wer Mays Werk mit dem Schweizerischen Robinson von J. D. Wyss vergleicht, wird sehr rasch – bis in den Sprachduktus hinein – grosse Ähnlichkeiten feststellen. Bei Wyss wie bei May haben wir den Vater, der seine Truppe mit überlegenem Wissen und Ressourcen-Kenntnissen führt. Die Truppe, das sind bei Wyss vier Söhne – jeder davon mit ganz eigenen Charaktereigenschaften versehen. (Die Mutter, die zwar auch mit gestrandet ist, zählt kaum.) Die Dialoge, die der Vater (vor allem mit seinem Jüngsten) führt, könnten praktisch genau so in Karl Mays Werk gefunden werden: Er erklärt seinen Jungen Gott und die Welt, weiss immer Rat, wenn es darum geht, Ressourcen zu finden oder zu nutzen. Wyss schrieb seinen Robinson aus privaten, familiär-pädagogischen Zwecken; erst sein Sohn hat das Buch öffentlich gemacht. May schrieb von Anfang an für die Öffentlichkeit. Der Sohn, den Hadschi Halef Omar darstellt, ist also fiktiv – einerseits ist er der Sohn, den May im realen Leben nie haben konnte, andererseits das ganze Publikum. (Und man versteht jetzt auch, warum May gereizt und verärgert reagierte, als das Publikum – einem pubertierenden Sohne gleich – später die väterlich May’sche Kompetenz in Frage stellte.)
Und obwohl es in seinem Werk sehr wohl Ansätze gibt, mehr als nur eine zum Zeitpunkt von Mays Schreiben auch schon rund hundertjährige, also schon damals altbacken-christliche Pädagogik zu liefern (seine sog. ‚Kolportage-Romane‘ sind erfreulich frei davon, und hier ist besonders auf die Darstellung des Weber-Elendes hinzuweisen, die wir im Verlorenen Sohn finden – Karl May hätte einer der ersten und grossen Naturalisten in Deutschland werden können, wenn denn damit Geld zu verdienen gewesen wäre; im sog. ‚Spätwerk‘ gibt es ein paar Stellen, in denen das väterliche Über-Ich, v.a. Kara ben Nemsi, die Kontrolle über die Handlung verliert, Stellen, die oft einen phantastisch angehauchten Hintergrund haben und so auf ihre Weise grossartig sind): May war schon zu Lebzeiten im Grunde genommen überholt, was seinen Erfolg zu einem Phänomen macht. Dass ihm das Publikum, dass ihm Hadschi Halef Omar so lange die Treue gehalten hat, ist wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass das geordnete und klare Weltbild eines May (wie eines Wyss) auf jugendliche Seelen bis heute anziehend wirken kann. Heute allerdings ist dieser Sohn längst – nun ja, vielleicht nicht erwachsen, aber in andern Umständen aufgewachsen, nicht mehr auf einer kleinen, einigermassen übersichtlichen Insel, sondern in Kontakt mit der ganzen Welt, so dass Mays pädagogische Bemühungen altbacken wirken. Noch kämpfen ein ganzer Verlag und eine Gruppe von Fans darum, May auch im 21. Jahrhundert attraktiv zu erhalten. Was ich bisher gesehen habe, ermutigt mich kaum: Was attraktiv sein könnte, ist nicht mehr May; was May ist, ist nicht mehr attraktiv. Aber vielleicht täusche ich mich.