Mohr ist ein Anhänger der Evolutionären Erkenntnistheorie und zeigt die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes gerade für das naturwissenschaftliche Denken, da sich genuin philosophische Probleme ontologischer und epistemologischer Art durch die evolutionäre Betrachtung gar nicht mehr stellen (etwa die Frage nach der „wunderbaren“ Übereinstimmung unseres Erkenntnisapparates mit der zu erkennenden Umwelt). Und er zeigt – gerade für die Wissenschaftspraxis – dass alle metaphysisch-religiösen (oder auch hermeneutischen) Ansätze unmöglich zu fruchtbarer Erkenntnisarbeit führen können: Ohne Intersubjektivität, empirischer Prüfbarkeit und einer materialistischen Grundhaltung (die Einflüsse nur als durch Materie/Energie bewirkt gelten lässt), ist wissenschaftliche Forschungsarbeit unmöglich. Allerdings sind seine Ausführungen nichts wirklich Neues und fallen häufig allzu kurz aus: Das ist aber der Intention des Autors geschuldet, der bewusst nicht sehr viel mehr als eine „Einführung“ in das wissenschaftliche Denken für Studenten geben will. (So verwendet er für das Hempel-Oppenheim-Schema nur drei Seiten und kann dadurch gerade mal den deduktiv-nomologischen Teil in Ansätzen abdecken.)
Ein besonderes Anliegen ist Mohr die Integration des wissenschaftlichen Weltbildes in unsere soziale, politische Welt – und er wehrt sich vehement gegen eine Beurteilung der Technikfolgen (er war über viele Mitglied der Akademie für Technikfolgenabschätzung) durch fachlich inkompetente Personen, die nicht dem wissenschaftlichen Ethos, sondern dem politischen Erfolg verpflichtet sind. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch Apels „ideale Kommunikationsgemeinschaft“, die für alle an der Kommunikation Beteiligten die gleichen Rechte vorsieht: Eine solche Diskursethik ist bloße Utopie angesichts des weit verbreiteten Unwissens (so konnte nur jede 16. Person in Baden-Württemberg eine zumindest primitive Definition des Genbegriffs geben, was aber niemanden daran hindert, genmanipulierte Lebensmittel vehement abzulehnen). Der Grund hiefür liegt teilweise in der Bildungspolitik (die den naturwissenschaftlichen Bereich stiefmütterlich behandelt*) als auch in einer kruden Technikfeindlichkeit, die einzig die negativen Folgen der Entwicklung betrachtet und z. B. ignoriert, dass das menschliche Leben für die derzeitige Anzahl von Menschen nur unter der Voraussetzung einer funktionierenden Technik aufrecht zu erhalten ist. Wer also eine technikfreie Zukunft ersehnt, müsste auch entscheiden, welche 80 % der Menschheit sein Recht auf Leben verwirkt hat. Den Wissenschaftler für die Folgen zur Verantwortung zu ziehen ist zu einer unsinnig-kurzsichtigen Attitüde geworden, denn dies würde zum einen eine präzise Kenntnis der Nebenfolgen jeder Forschung voraussetzen, zum anderen die Möglichkeit, diese Nebenfolgen konkret kausal einer Person zuzuordnen. Otto Hahn hatte mit der Atombombe ursächlich weniger zu tun als die Entscheidungsgremien um Roosevelt und Truman für den Bau bzw. den Abwurf der Bombe. (Eine nicht unerhebliche Verantwortung für Technikfolgen liegt ganz trivial beim Wähler: Diese wären für mögliche Umweltschäden unter der Regierung Trump sehr viel eher zu belangen als irgendwelche Wissenschaftler.) Implizit erwähnt Mohr auch eine von Max Webers Forderungen im Werturteilsstreit: Der Wissenschaftler kann sich selbstverständlich auch politisch äußern (und sollte das auch tun), aber er muss seine politische Äußerung explizit machen und darf sie nicht mit seiner wissenschaftlichen Arbeit vermengen.
Ein manchmal anregendes, fast immer kluges Buch, das aber viele Themen (gerade wissenschaftstheoretischer Natur) nur streift und dadurch unzulässig vereinfachend wirkt. Als reine Einführung trotzdem lesenswert.
*) Dem ist auch in Österreich so: Bei der Suche nach einer entsprechenden Grundschule für meinen Junior stießen wir auf unzählige esoterisch-religiöse Angebote, eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Schule gab es überhaupt nicht.
Hans Mohr: Einführung in (natur-)wissenschaftliches Denken. Heidelberg: Springer 2008.