Gleich zu Beginn, in Kapitel 1, treffen wir die vier Protagonisten des Romans im Jardin des Plantes: Anatole, Coriolis, Garnotelle und Chassagnole. Noch sind sie junge Studenten der Malerei und Bildhauerei. Der Roman wird sie ein paar Jahre auf ihrer künstlerischen Laufbahn begleiten, und der Leser erlebt mit, wie der eine Karriere in den vorgegebenen akademischen Geleisen macht, der andere aufgrund geerbten Reichtums zum wohlhabenden Amateurmaler und Mäzen wird, der dritte, der Spassvogel im Bunde, ohne Aufträge beinahe zu Grunde geht, zum Schluss des Romans aber eine Stelle findet als Aufseher im Tierpark und seine malerischen Ambitionen ganz aufgibt, ja in eine beinahe pflanzenhafte und zufriedene Existenz sich zurückzieht. Der vierte aber ist der, der wohl am meisten künstlerische Begabung hat. Er bewegt sich deshalb immer wieder ausserhalb der ausgefahrenen Geleise des akademischen Kunstbetriebs und kriegt dafür mal Anerkennung, meist aber wird er einfach ignoriert. Er ist es auch, der Manette Salomon kennenlernt, eine junge Frau (wie sich später herausstellt: eine Jüdin), die ihm zunächst Modell steht, dann seine Geliebte wird, dann die Mutter seines Sohns, zuletzt seine Frau. Sie gewinnt zusehends Macht über ihn und macht aus dem Aussenseiter einen nur noch um des Erlöses Willen Malenden, der sein Génie verleugnet. Am Ende des Romans verlassen wir Coriolis als gebrochenen Mann…
Doch die äusseren Ereignisse sind im Grunde genommen nur Vorwand für die Brüder Goncourt, ausführlich die Pariser Kunstszene der 1820er bis 1840er zu schildern. Der Roman wimmelt von Beschreibungen echter und erfundener Bilder, Kunstkritik mischt sich mit Kunstgeschichte, mischt sich mit Kunsttheorie. Dennoch bleibt das Ganze ein Roman, da die entsprechenden Bemerkungen nie auktoriell sind, sondern immer einem Protagonisten in den Mund gelegt werden. Unsere Künstler diskutieren nämlich gern und häufig – über sich, über andere. Wohl kaum einer, der damals im Munde von Publikum und Kollegen war, wird ausgelassen. Selbst der gute Freund der Goncourts, Paul Gavarni, wird erwähnt. So entsteht ein Panorama der Pariser Kunstwelt und dessen, was sie in jenen Jahren umtrieb. Der Roman bleibt immer Roman und deshalb äusserst lesbar.
Man kann sagen, dass die Goncourts, von Einzelexemplaren vielleicht abgesehen, die Frauen nicht mochten. Manette, die zwar Titelheldin ist, aber eigentlich nicht im Zentrum steht, ist eine Frau, wie sie nur zwei Misogyne des 19. Jahrhunderts erfinden können: hinter einer (im Laufe des Romans zusehends bröckelnden) warmherzigen Fassade berechnend und nur auf den eigenen Vorteil bedacht bzw. den Vorteil der Nachkommenschaft. Dazu mischen die Goncourts ihren mindestens so starken Antisemitismus, wo der vorgebliche stark ausgebildete Erwerbstrieb der Juden sich paart mit ihren seltsamen Ess- und Kultusgewohnheiten. Der Schlussteil des Romans ist deshalb im 21. Jahrhundert schwer verdaubare Kost. Dass die Herausgeber der Reihe Die Andere Bibliothek sich trotzdem daran gewagt haben, ist ihnen zu danken. Denn Manette Salomon ist nicht nur literaturgeschichtlich interessant, sondern tatsächlich ein gut zu lesender Roman – auch noch im 21. Jahrhundert, auch noch, wenn man nicht alle Details der damaligen Pariser Szene kennt, auch noch, wenn einen die antisemitischen Auslassungen der Goncourts ärgern.
Edmond & Jules de Goncourt: Manette Salomon. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann [sie hat auch an der Übersetzung der Goncourt-Tagebücher mitgewirkt, weshalb die Sprache der Tagebücher und die Sprache dieses Romans wie aus einem Guss daherkommen]. Mit einem Nachwort bereichert von Alain Claude Sulzer [das so bereichernd allerdings nicht ist – er redet mehr von den Tagebüchern der Goncourts als von diesem Roman und bringt dem, der die Tagebücher gelesen hat, keine neuen Erkenntnisse, in Bezug auf den Roman bringt er gar nichts]. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2017.