Und so wirken viele der Befragten, die mit „ja“ antworteten, so, als ob sie sich gleich mal entschuldigen wollten, sie stellen dieses „Sehen“ ganz unverfänglich dar, zufällig oder einer wie immer gearteten Neugier geschuldet. Und man fühlt sich auch bemüßigt, Erklärungen abzugeben über Hitler, über seine „knallblauen“ Augen und den unergründlichen Blick, der anderen wieder wie von einem Grauschleier getrübt erschien und so gar nicht feldherrnmäßig, sondern eher verunsichert und unstet. Manche wuschen sich tagelang nicht die Hände, nachdem sie der Führer begrüßt hatte (das aber waren meist die „anderen“, von denen solche Dinge erzählt wurden) und einigen will die neue Sprachregelung noch nicht so recht über die Lippen, sie sprechen immer noch von „meinem“, „unserem“ Führer. Kann schon mal passieren.
Einig ist man sich darin, dass anfangs noch alles gut gewesen sei, nur nachher – das mit dem Krieg und mit den Juden – das sei nicht recht gewesen und allenthalben wird vermutet, dass der Führer wohl von seiner Umgebung getäuscht worden oder gar geisteskrank gewesen sei. Eine Kontinuität zwischen der Politik in den 30er Jahren und dem nachfolgenden Krieg nebst Holocaust hat kein einziger bemerkt. Natürlich ist dieses Scheuklappentum nachvollziehbar (und Kempowskis „Schöne Aussicht“ ist ein gelungenes Gesellschaftsbild dieser Zeit), Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Beunruhigung nur dort, wo das Nazitum die eigenen Lebenskreise stört, all zu nahe rückt. Ansonsten klammert man sich an den ökonomischen Aufschwung und beschwichtigt mögliche Bedenken: Die Gerüchte seien übertrieben und manche hätten eine solche Behandlung doch verdient.
Dazu kommt der Hand zum Anekdotischen bei vielen Befragten, man beurteilt nach einem kleinen Ereignis, einem persönlichen Vor- (oder Nachteil), einem ganz bestimmten Eindruck. Holocaust und Zweiter Weltkrieg werden so zu einem Anhängsel eines verschenkten 50-Mark-Scheines – so wie heute Bananen- und Glühbirnenverordnung das sind, was die EU ausmacht. „Durch das Fluidum wirkte er. […] kein eigenständiges Urteil war mehr möglich. Das glaubt heute ja kein Mensch mehr.“ Doch – ich schon …
Walter Kempowski: Haben Sie Hitler gesehen? München: Hanser 1973.