Giacomo Puccini: Madama Butterfly

Musikwissenschafter rechnen Puccinis Oper Madama Butterfly zum sog. ‚Verismus‘, der auch der Literaturwissenschaft bekannten italienischen Variante des Realismus oder Naturalismus. Der ‚Verismo‘ zeichnet sich durch exakte Beschreibung und Sozialkritik aus, was ja aus dem Naturalismus nicht unbekannt ist.

Bei Madama Butterfly zeigt sich der ‚Verismo‘ schon im Libretto: Der US-amerikanische Marine-Offizier B. F. Pinkerton kauft für 999 Jahre ein Haus, inkl. Geisha. (B. F. steht für Benjamin Franklin, und er kommt an Bord der Abraham Lincoln nach Nagasaki – noch US-amerikanischer kann man nicht sein!) Die Geisha, Cio-Cio-San (auch bekannt als Madame Butterfly), nimmt die japanische Trauungszeremonie ernster als der junge Offizier. Sie hat sich mit allen Fasern ihres Wesens in den US-Amerikaner verliebt. Man versteht so die Oper als Kritik an der Überheblichkeit des ‚weissen‘ Westens, vor allem der USA, die gekommen sind, der Welt Heil zu bringen und doch nur Chaos und Elend hinterlassen. Bezeichnender Weise ist es im 2. Akt ausgerechnet Cio-Cio-San, die amerikanischer und rechtsstaatlicher denkt als der Paradeamerikaner Pinkerton und stolz ist auf ihre (vermeintliche) neue Identität als US-Amerikanerin. (Man kann natürlich auch – so wird die Oper wohl grösstenteils rezipiert – in Madama Butterfly eine Liebesgeschichte sehen, miterleben, wie sich Mann und Frau nie verstehen werden: Wenn Cio-Cio-San in der Hochzeitsnacht vor Liebe beinahe dahin schmilzt und Zärtlichkeit und Zuneigung zeigt und einfordert, ist Pinkertons Trachten nur darauf ausgerichtet, die junge Frau so schnell wie möglich flach zu legen – auch wenn ihn die Geilheit veranlasst, Liebesgesülze von sich zu geben.)

‚Verismo‘ ist es, wenn Puccinis Musik sich in stetigem Fluss an die Gedanken und Worte der Personen auf der Bühne anpasst. Und wenn Komponist und Librettisten uns im 3. Akt die Nacht von Butterflys Warten auf Pinkerton in epischer Länge miterleben und mitleiden lassen, wird für einmal längere Zeit gar nicht gesungen. Orchestermusik führt den Zuschauer durch Butterflys Gedanken: Freude, Hoffnung, Verzweiflung, erneute zarte Hoffnung.

Die Titelfigur der Geisha Cio-Cio-San ist eine Paraderolle für Sopranistinnen. Die noch junge Svetlana Aksenova, die die Rolle in der von mir am Zürcher Opernhaus gestern gesehenen Aufführung inne hatte, brillierte mit ihrer melodiösen, samtweichen und doch kräftigen Stimme und erhielt zu Recht von allen Sängerinnen und Sängern den grössten Applaus. Nicht, dass das übrige Ensemble abgefallen wäre. In Madama Butterfly nimmt auf Grund der durchkomponierten Form das Orchester eine wichtige Rolle ein. Die Musiker des Opernhauses wurden den Ansprüchen durchaus gerecht und verdienen ebenfalls ein grosses Lob.


Madama Butterfly

Tragedia giapponese in zwei Akten von Giacomo Puccini (1858-1924). Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach Pierre Loti, John Luther Long und David Belasco

Musikalische Leitung: Daniele Rustioni
Inszenierung: Ted Huffman
Bühne: Michael Levine
Kostüme: Annemarie Woods
Lichtgestaltung: Franck Evin
Choreographische Mitarbeit: Sonoko Kamimura-Ostern
Choreinstudierung: Ernst Raffelsberger
Dramaturgie: Fabio Dietsche

Cio-Cio-San:Svetlana Aksenova
Suzuki: Judith Schmid
Benjamin Franklin Pinkerton: Saimir Pirgu
Sharpless: Brian Mulligan
Goro: Martin Zysset
Fürst Yamadori / Der Standesbeamte: Huw Montague Rendall
Onkel Bonze: Ildo Song
Der kaiserliche Kommissar: Stanislav Vorobyov
Kate Pinkerton: Natalia Tanasii

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

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