Jörg Eugster: Übermorgen

Staunend liest’s der anbetroffne Chef. Nämlich die Rezensionen auf Amazon, die da voll des Lobes sind über ein Buch, dessen gedanklicher Tiefgang sich mit trivialer Ratgeberliteratur messen kann. Nur ist das Zielpublikum ein anderes – nämlich Unternehmer, die da die digitale Revolution versäumt haben und die in diesem Büchlein darüber belehrt werden, wie effektiv es sich arbeiten lässt mit Cloud & Co.

Wobei – das ist noch der beste Teil. Vielleicht lässt sich da das eine oder andere noch verwerten (für all jene, denen das Schreiben von Emails schon als eine Herausforderung erscheint, die ein Informatikstudium erfordert).* Ansonsten wirkt der Autor auf mich wie anno dazumal Jahrmarktsverkäufer, die mit gehörigem stimmlichem Aufwand die gut und am besten schneidenden Messer an die Hausfrau bringen wollten. Oder wie ein dahergelaufener Lebens-Coach, der da Weisheiten a la Coelho verbreitet. Nur das Herr Eugster Werbung für Amazon (das kundenfreundlichste Unternehmen unter dieser Sonne) oder Google verbreitet und seine Begeisterung für alle möglichen Gimmicks (Wearables) kund und zu wissen tut. (Seit er einen Schrittezähler hat, geht er mehr. Und nämlicher hält ein bis zwei Jahre und kostet nur irgendwas zwischen 100 und 200 Euro, ein Schnäppchen also und er hält noch dazu fit (sic).) Er preist also alles und jedes an, was nur irgend vernetzt oder digital ist (gehört also zum Typ Mensch, der einen „mitdenkenden“ Kühlschrank hochschätzt, was in mir immer den Verdacht erregt, dass das Kühlaggregat vielleicht das Klügste in der ganzen Wohnung ist).

Die Idee, dass so manche digital-vernetzte Errungenschaft absolut schwachsinnig sein könnte bzw. zur Entwicklung der Imbezillität beitragen könnte, kommt dem Autor nicht. Sein Credo: Der Markt entscheidet, ob eine Entwicklung etwas wert ist und wenn sich eine ausreichende Menge von der Kaufwürdigkeit eines Produktes überzeugen lässt, dann ist die Frage nach dem Nutzen schon beantwortet. Denn mit dem Nutzen hat’s der Autor auch: Auch wenn er darüber nicht viel nachdenkt und damit so etwas wie Zeitersparnis verbindet. Mit der es zumeist nicht weit her ist: Denn zumeist kreieren die Neuerungen neue Bedürfnisse und erleichtern mitnichten das Leben. Was sie im übrigen auch nicht sollen: Denn sie dienen dazu, die Zeit totzuschlagen, sich mit ihnen zu beschäftigen und sind keineswegs Dinge, die uns die teilweise notwendigen Härten des Daseins erleichtern.**

Man befrage einen modernen Arbeitslosen und wird immer wieder erfahren, dass es nicht der Geldmangel ist, der ihm (in der Regel) so schwer zu schaffen macht, sondern das Übermaß an Zeit, dass er mitnichten sinnvoll ausfüllen kann (und auch der Mangel an Anerkennung: Die Tätigkeit kann gar nicht unsinnig genug sein, um nicht doch ein Gefühl der Sinnhaftigkeit zu erwecken). Das teilt er mit der übrigen Menschheit, weshalb es ein Irrtum ist zu glauben, dass die meisten unserer Gadgets (ich nehme mir in diesem Beitrag die Freiheit, dem digitalen Jargon zu frönen) einen Fortschritt darstellen – sie sind ein Zeitvertreib (im wahrsten Sinn des Wortes). Wenn Eugster das mit „Nutzen“ gemeint haben sollte – dann, ja dann bin ich seiner Meinung.

Ansonsten, vermute ich, lebe ich in einer anderen Welt als Herr Eugster (und das trotz der Tatsache, dass ich internetaffin bin und sogar durchschnittliche Programmierkenntnisse mein eigen nenne, an denen ich in früheren Jahren die Menschheit partizipieren ließ – gegen Entgelt). Nur ein typisches Beispiel ist sein Lobgesang auf die virtuelle Realität, die das Netz demnächst überschwemmen werde: Denn ich wüsste nicht, welche der von mir oft aufgesuchten Webseiten durch eine solche Darstellung gewinnen würde. (Im übrigen besitze ich 3D-Katzen und 3D-Kinder und ein brilliante evolutionäre Software, die mein zweidimensionales Retina-Abbild in eine hervorragend lebensechte 3D-Welt umrechnet.) Das Schlimmste aber in diesem Buch ist – wie oft – der verquere Humor des Autors: Da gibt es fiktive Dialoge aus dem 2030 zwischen einem Luca und seinem Opa, die einfach nur noch peinlich und zum Fremdschämen sind. Immer wieder muss der arme Großvater bekennen, wie rückständig man vor 20 Jahren war – und man empfindet Mitleid mit dem alten Herrn (und dem prospektiven Leser).

Kritische Töne sucht man vergebens: Kein Wort darüber, wie Amazon (neben seiner hochgepriesenen „Kundenfreundlichkeit“, von der ich auch anderes berichten könnte) mit seinen Mitarbeitern umzugehen pflegt, welche Probleme des Datenschutzes, des Schutzes der Privatsphäre sich aus all den vernetzten Geräten ergeben, aus der Transparenz der Vorlieben des Einzelnen (weshalb etwa China ein Punktesystem für seine Staatsbürger einzuführen gedenkt: Wofür es Abzüge (und damit Benachteiligungen) gibt, kann man sich ohne große Phantasie ausmalen). Ich bin nun wahrlich kein Technikfeind – im Gegenteil: Für viele unserer Probleme ist sie die einzige Chance. Aber eine derart unkritische und seichte Hommage auf alles, was irgendwie mit „digital“ zu tun hat, ist schlicht eine Zumutung. Ob die Amazonbewertungen nicht auch digital zustande gekommen sind, ob hier nicht die vielgepriesenen Bots zum Einsatz kamen? Ich weiß es nicht, würde es aber gerne vermuten: Weil ich die Menschheit für so dumm denn doch nicht hielt.


*) Ich kenne die schweizerische Unternehmenskultur nicht: Es fällt mir aber schwer zu glauben, dass diese oberflächlichen und banalen Tipps Eindruck zu erzeugen vermögen. Wie auch immer …


**) Das gilt im übrigen auch für wirklich nützliche (und das Leben erleichternde Dinge): Untersuchungen haben gezeigt, dass die Waschmaschine keineswegs den Zeitaufwand zur Reinigung der Wäsche verringert hat. Im Gegenteil: Der/die durchschnittliche Hausmann/frau verbringt heute mehr Zeit mit seiner Wäsche als die geplagte Frau früherer Jahre, die noch mit einer Waschrumpel (öst., ansonsten Waschbrett) dem Schmutz zuleibe rückte.


Jörg Eugster: Übermorgen. Eine Zeitreise in unsere digitale Zukunft. Zürich: Midas 2017.

5 Replies to “Jörg Eugster: Übermorgen”

  1. Also, zunächst wage ich das Untersuchungsergebnis zum Wäschewaschen zu bezweifeln. Vielleicht wurden dazu vor allem solche Leute befragt, welche sich vor die Waschmaschine (Frontlader mit Glastür) setzen und zuschauen, weil sie das interessanter als das übliche Fernsehprogramm finden, mit Recht.

    Was den „modernen Arbeitslosen“ betrifft, kann ich aus eigener Erfahrung versichern, dass ich daran gerade das Übermaß an Zeit zu schätzen wusste. Dagegen macht mir jetzt wieder das Untermaß an Zeit zu schaffen. Daher erinnert mich so eine pauschale Behauptung an die Arroganz des Herrn Arthur Schopenhauer, der, seinerseits dank zeitiger Erbschaft von jeder Erwerbstätigkeit dispensiert, den Sonntag als Feiertag abzuschaffen riet, da die Leute sich ja doch nur langweilten.

    Bei Amazon ärgert mich der häufige Mangel an präzisen Informationen zu der jeweiligen Ausgabe. Stattdessen erfährt man etwas zu einer ganz anderen Ausgabe, sogar noch einer Kindle-Ausgabe: Was soll das, wenn ich ein Buch kaufen will? Und Belehrungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung und Bedeutung eines Autors oder Werkes sind da wirklich fehl am Platz. Dazu tragen allerdings auch Kunden bei, die es für angebracht halten, in ihrer Kundenrezension eine Inhaltsangabe etwa zur Ilias zu verfassen. Besonders erinnerlich ist mir ein Kunde, der sich sehr darüber wunderte, dass in der ersten englischen Übersetzung, von George Chapman, die Eroberung Trojas fehlt.

    1. Selbst einigermaßen skeptisch gegenüber Umfragen meine ich, dass gerade diese Untersuchung über den Waschzeitaufwand einen sehr soliden Eindruck gemacht hat (man hat eben T-Shirts eine Woche getragen – und auch Unterhosen). Vielleicht finde ich noch den Link bzw. das Zitat.

      Mit Arbeitslosen hatte ich selbst etwa 10 Jahre zu tun und – von Ausnahmen abgesehen, die das Nichtstun sehr wohl genossen haben bzw. sich durchaus zu beschäftigen wussten – war das Gros der Menschen mit der Freizeit völlig überfordert (das ist keine arrogante Attitüde, sondern ein empirischer Wert, der im übrigen auch durch diverse Untersuchungen bestätigt wird). Man trinkt sich häufig durch den Tag und fühlt sich nutzlos, ich kann mich an Leute erinnern, die heilfroh waren, wenn sie im Park Laub rechen konnten (von einer Seite auf die andere …).

      Bei Amazon ärgert mich vieles – und ich vermeide solche Bestellungen nach Möglichkeit. In jedem Fall kann ich das völlig unkritische Loblied des Autors nicht nachvollziehen. – Bei Kundenrezensionen lese ich zwischen den Zeilen: So manche schlechte Bewertung hat mich schon veranlasst, ein Buch zu lesen – und vice versa. Reine Information erwarte ich dort nicht.

  2. Buch wie Autor waren mir bisher unbekannt. Und ich denke, das wird auch in der Schweiz an den meisten Orten – inkl. Unternehmen – so sein.

    Aber ja: Ich habe auch schon Personen in der Anwendung ihres e-mail-Programms geschult. Personen in leitender Stellung nota bene.

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