Im vorliegenden Buch werden die großen sozialen Unterschiede im Amerika der 20er Jahre geschildert: Eine weitgehend rechtlose Arbeiterklasse, der sogar das Recht auf Streik verwehrt wird und die ihren Reichtum genießende Kapitalisten, die die Probleme der Armen auch dann nicht zu verstehen in der Lage sind, wenn sie direkt darauf gestoßen werden. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist Lukas Faber, Abkömmling einer politisch einflussreichen Familie, Besitzer einer Autofabrik (die er aber eigentlich nur als sein Hobby betreibt, dort werden Rennwagen erzeugt, die Faber selbst fährt) und vollkommen unempfindlich für alles, was außerhalb seines Kreises geschieht. Am Vorabend eines großen Rennens befiehlt er einer kleinen, ihm ergebenen Gruppe die sich versammelnden Streikenden anzugreifen; dabei kommt ein Mann zu Tode, aber Faber lernt auch eine Frau namens Marcy kennen, die ihm durch seine Unerschrockenheit imponiert und in die er sich verliebt. Tags darauf verunglückt er bei dem Rennen schwer, liegt drei Wochen im Koma und erzählt dann anschließend von der „Römischen Vision“, die er in dieser Zeit der Bewusstlosigkeit hat.
Er fühlt sich versetzt in das Rom der Gracchen und träumt sich selbst als einen reichen Patrizier, der in ganz ähnlicher, ja gleicher Weise handelt wie der Faber des 20. Jahrhunderts. Das Sonderbare an dieser Vision ist die Tatsache, dass sich das Geträumte gleichzeitig in der Gegenwart (mit fast demselben Personal) ereignet: Marcia stirbt, als die (römische) Streikbewegung zerschlagen wird, Faber wird wegen des zuvor getöteten Arbeiters angeklagt, aber der Einfluss der Familie kann die Anklage abwenden u. v. m. Als Faber aus seinem Traum erwacht, sieht er sich mit dem Geschehenen konfrontiert, muss den Tod der geliebten Marcia (Marcy) zur Kenntnis nehmen und ist ob dieser – recht esoterisch anmutenden Dinge – verstört. Aber sein Charakter scheint sich gleich geblieben: Nirgendwo ist zu erkennen, dass er die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft verstanden hätte.
Während ich anfangs die Geschichte gern las, die Darstellungsweise recht gelungen fand (wenn die egoistischen und selbstgefälligen Ansichten der Hauptfigur aus der ersten Person heraus geschildert werden), hat mich der zweite Teil, die „römische Vision“ eher vor den Kopf gestoßen. Dieser so aufdringlich gestaltete Vergleich zwischen der Sklavenhaltergesellschaft Roms und den Verhältnissen in den us-amerikanischen Fabriken ist auf die Dauer penetrant, die Moral so offenkundig, dass es schon fast peinlich wird. Zudem wird das Wunderbare der Vision noch auf metaphysische Weise interpretiert, man zweifelt an der Realität, der Wissenschaft und zitiert – frisch vom Esoterikstammtisch – die unvermeidlichen Zeilen aus Shakespeare, dass es da „mehr zwischen Himmel und Erde gäbe als sich die Schulweisheit träumen lasse“. Das alles berührt recht peinlich und macht aus einem im Grunde lesbaren Roman eine Geschichte mit platter Moral und ebensolcher Erkenntnis. Angeblich war das Sinclairs erster Roman, in dem er sich in dieser Weise „philosophischer“ Probleme annahm: Ich hoffe, es war auch der letzte. Insgesamt nicht wirklich ein Buch, das Lust auf mehr von diesem Autor macht.
Upton Sinclair: Römische Vision. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlagsgesellschaft 1932.