Richard Adams Locke: Neueste Berichte vom Cap der Guten Hoffnung über Sir John Herschel’s höchst merkwürdige astronomische Entdeckungen, den Mond und seine Bewohner betreffend

The Great Moon Hoax‚ war die erste absichtlich fabrizierte Zeitungsente in der Geschichte des Journalismus. Verantwortlich dafür gemacht wird im Allgemeinen Richard Adams Locke, auch wenn noch andere Namen zirkulieren. Worum geht es?

Mit Start 25. August 1835 erschien in der New Yorker Zeitung The Sun eine Serie von sechs Artikeln, in denen behauptet und genau beschrieben wurde, wie der berühmte Astronom Sir John Herschel in seiner Sternwarte in Südafrika durch eine Verbesserung seines Teleskops eine ungeahnte Verbesserung in der Vergrösserung der gelieferten Bilder erreicht hatte. Dadurch war es ihm nun möglich, auf dem Mond Flora und Fauna zu beobachten. Vor allem letztere wird im Detail beschrieben, von auf zwei Füssen laufenden Bibern bis hin zu menschenähnlichen Wesen, die aber Flügel am Rücken tragen. Der Artikel war vorgeblich von einem Dr. Andrew Grant verfasst, Adoptivbruder und Amanuensis von John Herschel, und zuerst in der Beilage des Edinburgh Journal of Science erschienen. Doch weder gab es die angebliche Vorlage, noch einen Dr. Grant. A fortiori auch keine Lebewesen auf dem Mond.

Dennoch verpasste die kleine Serie der Zeitung The Sun eine nicht unbeträchtliche Auflagensteigerung, und man nimmt heute an, dass dies zu erreichen, das Motiv des Verfassers gewesen ist. Allerdings differieren die Aussagen, wenn es darum geht, festzuhalten, ob diese Auflagensteigerung nachhaltig gewesen sei oder nicht. Die ersten fünf Artikel wurden jedenfalls rasch auch ins Deutsche übersetzt; der sechste, in dem Dr. Grant erzählt, wie eine Fehlstellung des Teleskops über Nacht das Observatorium inkl. Teleskop abbrennen liess, so dass keine weiteren Beobachtungen mehr möglich waren, aber nicht.

2017 sind diese Artikel im Verlag Das kulturelle Gedächtnis in der originalen Übersetzung wieder erschienen, der sechste wurde im Originalton erstmals ins Deutsche übertragen. Dazu wurde als Anhang ein Artikel von Edgar Allan Poe hinzugefügt, Richard Adams Locke, in dem sich Poe darüber verwundert, dass die naturwissenschaftlich recht krude Erfindung Lockes überhaupt ernst genommen werden konnte. (Tatsächlich war es so, dass das Publikum den Betrug zum Teil nie durchschaut hatte. John Herschel, als er davon erfuhr, war zuerst amüsiert, zeigte sich aber später leicht genervt, wenn er immer wieder darauf angesprochen und in vollem Ernst um zusätzliche Informationen über die Mondmenschen gebeten wurde.) Poe ist allerdings in diesem Fall Partei, behauptete er doch auch – und wohl nicht zu Unrecht – das Ganze sei ein Plagiat seines The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall.

Dass an Mondmenschen aber tatsächlich geglaubt werden konnte, darauf weist der Herausgeber Peter Graf in einem kleinen Vorwort hin, wo er aus entsprechenden Schriften Franz von Paula Gruithuisens, Professors der Astronomie in München, zitiert. Der glaubte im Ernst auf dem Mond mit seinem kleinen Teleskop Gebäudestrukturen ausgemacht zu haben, die seiner Meinung nach nur künstlichen – also menschlichen, bzw. menschenähnlichen – Ursprungs sein konnten.

(Dass Peter Graf auch erzählt, wie Goethe seinen Freund Wilhelm von Humboldt dazu eingeladen hat, gemeinsam vor dem Schädel Schillers, den er sich heimlich besorgt hatte , zu meditieren, kann ich allerdings mit der Geschichte um die angeblichen Mondmenschen nicht so ganz in Verbindung bringen. Es war wahrscheinlich Ludwig Friedrich von Froriep, der Leiter der ärztlichen Kommission, die mit der Exhumierung von Schillers Grabstätte beauftragt war, und Goethe den Schädel zuspielte. Nun hat Froriep aber – so muss ich Graf verstehen – Goethe übers Ohr gehauen, und ihm, um den Schädel Schillers selber behalten und seiner eigenen, nicht kleinen Sammlung von Schädeln einverleiben zu können, einen fremden Schädel überreicht. Heute wissen wir, dass Froriep ein betrogener Betrüger war: Weder Goethes noch sein Schädel stammen von Schiller. Dieses moralisch erbauliche Ende einer Betrugsgeschichte aber fehlt im ‚Great Moon Hoax‚, und so verstehe ich nicht, warum Peter Graf überhaupt damit angefangen hat.)

Im Übrigen war ‚The Great Moon Hoax‚ auch eine Geschichte unter Nachfahren: Sir John Herschel ist der Sohn von William Herschel, ebenfalls Astronom und zu seiner Zeit wohl sogar berühmter als sein berühmter Vater. Richard Adams Locke hingegen ist ein aus Grossbritannien in die USA ausgewanderter direkter Nachfahre des Philosophen John Locke.

Alles in allem in der oben angegebenen Ausgabe eine schön präsentierte Kleinigkeit für den Kuriositätensammler, die ich als solche durchaus empfehlen kann.

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