Hugo Loetscher: Die Papiere des Immunen

Dieses Buch ist eine Art zweiter Teil, denn Loetscher hat 11 Jahre vor dem Erscheinen bereits ein Buch mit dem Titel „Der Immune“ veröffentlicht. Das wurde mir aber erst nach dem Lesen dieses Bandes bewusst (ansonsten bin ich in solchen Dingen konsequent und lese brav Band um Band), was mit meiner eher mediokren Kenntnissen der schweizerischen Literaturlandschaft zu tun hat.

Diese „Papiere“ sind der Nachlass des Immunen – und dieser ist hinwiederum eine Art alter ego, ein Doppelgänger des Ich-Erzählers, der auf diese schizoide Weise sein Leben zu bewältigen sucht. Sie sind der Nachlass, weil der Ich-Erzähler schon im ersten Kapitel gesteht, dass der Immune ihm zum Opfer gefallen ist, von ihm ermordet wurde. Und nun nimmt er sich der Notizen und Erzählungen an, die er allenthalben findet – und nach jeder Erzählung tritt der Protagonist wieder in Erscheinung, kommentiert, stellt Betrachtungen an, versucht sich der Funktion seines Immunen klar zu werden.

Denn offensichtlich ist da jemand, der das Leben nur unter der Voraussetzung einer Spaltung zu ertragen vermag (und schließlich und endlich, nach der letzten Geschichte, erkennt, dass die (Er-)Lösung durch Immunisierung auch nicht mehr greift). Diese Geschichten sind zum Teil ausnehmend originell, sie sind sorgfältig komponiert und mit viel Witz und Ironie verfasst. Ein Panoptikum von Erlebnissen, allesamt nachdenklich stimmend, Erzählungen, die durch sprachliche Genauigkeit bestechen und zumeist einfach nur ein literarischer Genuss sind. Natürlich besteht die Gefahr bei einem so heterogenen Buch, dass der Autor die Gelegenheit ergreift, so einiges zu verwursten, was ansonsten wohl dem Papierkorb anheim gefallen wäre: Aber dieser Eindruck entsteht eigentlich nur selten. Zumeist war ich schlicht beeindruckt durch den doppelbödigen Witz, der diese Erzählungen begleitet, die unaufdringliche Moral, den manchmal fast klassisch anmutenden Stil (Loetscher scheint ein Erzähler der alten Schule zu sein, dessen Sprachbegabung Effekthascherei weitgehend überflüssig macht, eine Effekthascherei, die etwa in der österreichischen Literaturszene der 70er und 80er gang und gäbe war).

Nach dem letzten „Papier“, der Schilderung seiner Zuneigung zu einer 12jährigen, thailändischen Immigrantin, deren Schicksal positiv zu beeinflussen ihm nicht gelingt, hat der Immune endgültig ausgedient: Die Liebe zu dem kleinen Mädchen lässt Distanz nicht mehr zu, verunmöglicht eine Haltung des Unbeteiligtsein. Zurück bleibt die Zeichnung des Mädchens mit seinen unbekannten Schriftzeichen, von denen der Erzähler noch hofft, dass es sich um ihre Adresse handeln könnte. Doch der Immune zerstört auch diese Hoffnung und so bleibt nichts als ein Mord, das Ende des Doppelgängers. – Mir hat diese Lektüre großes Vergnügen bereitet, ich habe allabendlich eine dieser Geschichten bzw. Zwischenhandlungen genossen. Und vielleicht ist es nur Zufall, dass ich gerade jetzt einen Spektrum-Band zur Immunabwehr hier liegen habe, der über die Kunst der (molekularen) Selbstverteidigung informiert. Ein Hin- und Hergerissensein: Zwischen Immunisierung aus Überlebensnotwendigkeit und dem Bedürfnis, dem Zulassen von Nähe.


Hugo Loetscher: Die Papiere des Immunen. Zürich: Diogenes 1988.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert