Am 30. Dezember jährt sich Theodor Fontanes Geburtstag zum 199. Mal – nächstes Jahr folglich zum 200. Mal. 200 Jahre Fontane sind Grund genug, 2019 zum Fontane-Jahr auszurufen. (Nun, mir ist ein Fontane-Jahr lieber als ein Luther-Jahr…) Dieses Fontane-Jahr 2019 wirft seine Schatten voraus: Fontanes Briefwechsel mit Storm wurde (neu) aufgelegt, und in der sog. „Großen Brandenburger Ausgabe“ erschienen 4 Bände Theaterkritik 1870-1894, herausgegeben von Debora Helmer und Gabriele Radecke in Zusammenarbeit mit der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. 4 Bände wären mir zu viel gewesen; ich habe mich mit der auf der kritischen Ausgabe beruhenden Auswahl Da sitzt das Scheusal wieder begnügt, herausgegeben von Debora Helmer und mit einem Nachwort von Simon Strauß versehen.
Dieses Buch enthält 46 der insgesamt fast 700 Theaterkritiken, die Fontane in seinem Vierteljahrhundert als Kritiker auf Sessel 23 für die Vossische Zeitung geschrieben hat. Fontane war als Theaterkritiker Quereinsteiger: Er hatte weder eine Ausbildung am Theater genossen, noch eine literaturwissenschaftliche. Dennoch (oder gerade deswegen?) erlaubt er es sich, immer wieder von der Meinung sowohl des Publikums wie von Kritikerkollegen abzuweichen. Für ihn ist das Gefühl wichtig: Eine Inszenierung muss ’stimmen‘. Das bedeutet für ihn vor allem einmal, dass die Beziehungen der auf die Bühne gestellten Personen in sich stimmig sein müssen, dass die von ihnen ausgedrückten Stimmungen in sich harmonieren. Da schaut natürlich der Romancier Fontane durch, der genau dies in seinen Romanen anstrebte: natürliche Personen, die auf natürliche Art und Weise agieren und reagieren. So kann er durchaus eine Aufführung von Goethes Geschwister als im Detail zwar gut, im Gesamten – eben als Stück – aber disharmonisch kritisieren, während ihn andererseits Wilhemine von Hillerns heute völlig unbekannte Geier-Wally von vorne bis hinten entzückt. Fontanes Kritiken urteilen meist sowohl über das Stück an sich, wie über die Leistung einzelner Schauspieler. Immer aber – ob Lob oder Verriss – reflektiert Fontane auch seine eigene Stellung als Kritiker.
Die Kritiken sind in einem lockeren Plauderton gehalten (Fontane schrieb fürs Feuilleton einer Tageszeitung, nicht für ein theater- oder literaturwissenschaftliches Journal!) und deshalb bis heute ein Genuss für die Lektüre. Die vorliegende Auswahl gruppiert Fontanes Kritiken in sechs Abteilungen:
- Frivole Franzosen – Aufführungen französischer Truppen, auf Französisch. Wie schon der von der Herausgeberin gewählte Titel anzeigt, geht es Fontane in diesen Kritiken auch darum, die französische Bühne vom Ruch der Frivolität zu entlasten und die schauspielerischen Leistungen der Franzosen den Berlinern als Vorbild hinzustellen.
- Wo die Natur versagt: Das Spiel – vor allem Klassiker, bei deren Aufführung Fontane das Augenmerk mehr auf die Schauspieler und ihre Leistungen legt als auf das Stück als solches.
- »Ich danke für Obst!« – Kuddelmuddel und Grundkonfuses – hier werden nun die Stücke (hin-)gerichtet, nicht die Schauspieler.
- Gefühlsunwahrheiten – Kritiken historischer Stücke, denen Fontane vorhält, dass sie ihren Protagonisten völlig unwahrscheinliche Gefühlslagen zuschreiben.
- Von jenseits des gesunden Menschenverstandes – da fehlt Fontane die (innere) Logik des Handlungsablaufs.
- Urteile der höheren Instanz: Das Gesetz in unserer Brust – wo Fontane seine Massstäbe als Kritiker noch offener als sonst darlegt. Hier finden wir – mit einer Ausnahme – nur positive Kritiken, hier finden wir auch die zumindest vom Hören-Sagen jedem bekannten zustimmenden Urteile über die naturalistischen Dramen eines Ibsen, Hauptmann, oder Holz & Schlaf. Deren Aufführung durfte nur in privatem Kreis stattfinden (es wurde extra dafür ein Verein gebildet!), weil die Stücke als ‚obszön‘ bei der Zensur durchgefallen wären.
Alles in allem eine gelungene Auswahl, die dem Leser durchaus das Gefühl gibt, nun den ‚essentiellen‘ Kritiker Fontane zu kennen und würdigen zu können. Ob – an Stelle eines Verweises auf die ‚grosse Ausgabe‘, wo auch Solches enthalten ist – die eine oder andere Sacherklärung noch dienlich gewesen sein könnte (ein Kommentiertes Personenverzeichnis existiert am Schluss des Buchs), kann ich nicht entscheiden. Mir persönlich fehlte nichts; aber ich bin nicht sicher, ob ich das Zielpublikum der Auswahlausgabe bin. Dennoch, wie gesagt, habe ich die Lektüre genossen, und mehr Theaterkritiker Fontane hätte ich gar nicht haben wollen.