Adolf Muschg: Der weiße Freitag

Biografie oder Roman? Essay oder Autobiografie? Im Untertitel nennt Muschg dieses Werk eine Erzählung vom Entgegenkommen. Das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Abgesehen von der sicher bewusst gewählten Schwammigkeit, die sich hinter der literarischen Pseudo-Form Erzählung versteckt, und die meine Eingangsfragen bewusst nicht beantwortet, stellt der Untertitel ein weitere, zusätzliche Frage in den Raum: Wer (oder was) kommt hier wem (oder was) entgegen? Und in welchem Sinn ‘entgegen’? Auch 250 Seiten später, am Ende der Erzählung, hat der Leser keine sichere Antwort darauf erhalten.

 Dass Muschg bewusst eine Mischform jenseits der üblichen literarischen Definitionen gewählt hat, steht ausser Zweifel. Was beginnt wie eine literarisch-biografische Schilderung des weißen Freitags, jenes Tags, an dem – auf seiner zweiten Reise in die Schweiz – Goethe zusammen mit dem Herzog und weiteren Begleitern vom Genfersee aus über den Gotthard in die Zentralschweiz wandern will, weitet sich in Vor- und Rückblicken aus. Dieser eine Tag im Leben des Johann Wolfgang (damals, 1779, noch nicht ‘von’) Goethe wird Muschg zu jenem fixen Punkt Galileis, mit dem dieser die Welt aus den Angeln zu heben versprach, und mit dem Muschg Goethes gesamtes Wesen und Wirken in Weimar erklärt – anders gesagt: Muschg sieht hier den Brennpunkt von Goethes Leben. Er fasst den Frankfurter Bürger, der sich in Weimar – wenn auch nur temporär, wie man (Goethe inklusive) damals dachte – niedergelassen hatte und sich an dessen Regierung beteiligte, als Regisseur eines komplizierten gesellschaftlichen Tanzes auf, der (der Tanz oder der Regisseur?) u.a. die Interessen von Anna Amalia, ihrem Sohn Carl August, von adligem Hof und bürgerlicher Bevölkerung miteinander auszugleichen versuchte. Die Alpenüberquerung im November 1797, zusammen mit dem Herzog, wird bei Muschg zu einer von Goethe bewusst inszenierten Prüfung seines Verhältnisses zu Carl August. Auch andere Verhältnisse spielen hinein: das zur Frau von Stein, zu Anna Amalia, zu Philipp Seidel, zu seiner Mutter Catharina (die er auf der Reise in die Schweiz zum vorletzten Mal sehen wird, seinen Vater gar zum letzten Mal) und zu seiner Schwester Cornelia (deren Tod 1777 er – immer nach Muschg – mit seinem Wagnis ebenfalls verarbeitete). Der berühmte Forster wird auf dem Weg in die Schweiz ebenso besucht wie Lavater in Zürich auf dem Rückweg – Lavater, den er (wie Muschg süffisant festhält) auf seiner dritten Schweizer Reise 1797 bei einem erneuten Aufenthalt in Zürich schneiden wird. Schiller bleibt nicht unerwähnt, auch wenn er 1797/80 in Goethes Leben noch keine Rolle spielte.

In dieses komplizierte Beziehungsnetz, gewoben aus Vor- und Rückblicken, verwebt Muschg nun noch Autobiografisches: seine eigene Krebserkrankung, die Reduzierung seines Wohnraums im Alter, die Gestaltung seines Gartens, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, mit Japan (als dessen Kenner er seit seiner Heirat mit einer Japanerin gilt, obwohl er, wie er amüsiert festhält, kaum ein Wort Japanisch spricht) etc. Meist nur angedeutet, steht so im Zentrum der Erzählung die Auseinandersetzung mit dem Tod – dem eigenen, ihm vom Krebs mit seinem zweiten Ausbruch sehr deutlich signalisierten, aber auch dem Tod an sich, kristallisiert in Goethes kalkulierter Herausforderung eines Scheiterns in den Alpen. Tod als Vollendung oder Tod als Scheitern? (Goethe – auch das lässt Muschg nicht unerwähnt – scheute sich sein Leben lang, mit dem Tod oder mit toten Personen konfrontiert zu werden, konnte dann aber stundenlang in Betrachtungen von Schillers Schädel vertieft dasitzen – oder zumindest in Betrachtung dessen, was er für den Schädel seines Freundes hielt, wir wissen heute, dass keines der in Weimar aufgefundenen und Schiller zugeschriebenen Relikte wirklich vom Schwaben stammt.)

Muschgs Vermächtnis nun wohl nicht (er hat seit dem weißen Freitag noch weitere Bücher geschrieben), aber eine Auseinandersetzung mit zwei Themenkreisen (dem Sterben und Goethe), die Muschg am Herzen liegen, und die er auch dem Leser ans Herz zu legen versteht. Ein Totentanz.


Adolf Muschg: Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen. München: C. H. Beck, 2017.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert