Es ist wahr: Was kann ein 24-Jähriger (24 wird Beneke nämlich am 1. August 1798) in einem Tagebuch Weltbewegendes notieren, wenn dieser 24-Jährige nicht z.B. Goethe heisst? Wenig bis nichts. Beneke trifft in einer Assemblée einmal auf Wilhelm von Humboldt, ein andermal auf „Klopfstock“. (Da er bei einem späteren „Klopstock“ ganz klar festhält, dass es sich nicht um den Dichter handle, gehe ich davon aus, dass beim ersten Mal tatsächlich der Dichter gemeint war.) Doch mehr, als dass der völlig unbekannte Beneke ein paar Blicke auf die Prominenz erhascht, liegt nicht drin, wird auch nicht erwähnt.
Nein, die Beneke-Tagebücher sind aus einem ganz andern Grund interessant. Der einzelne Eintrag ist profan, aber die Summe aller Einträge ergibt ein plastisches Bild der (Hamburger) bürgerlichen Gesellschaft zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
Da ist der immer wieder auftauchende Tod von jungen, frisch verheirateten Bekannten im Kindsbett.
Da ist die Französische Revolution – so weit weg von Hamburg aus gesehen, und doch zum Greifen nah. Beneke sympathisiert nach wie vor mit ihr; 1798 beginnt er, seine Tagebucheinträge nicht nur nach dem üblichen Kalender zu datieren, sondern zusätzlich auch nach dem Republikanischen. Politisch schwebt ihm offenbar so etwas wie ein Bund der Hansestädte vor, der nach ähnlichem Muster organisiert wäre, wie z.B. die Helvetische Republik. (Das Künstliche, Aufgezwungene der republikanischen Satellitenstaaten scheint Beneke ignoriert zu haben.)
Da sind immer wieder Hinweise auf die komplexe Struktur der Hamburgischen Verfassung. Beneke gründet Gesellschaften oder tritt welchen bei, um sich Konnexionen zu verschaffen. Langsam kommt er vorwärts. Ende 1798 ist er „Armenverwalter“, ein Job, den er – das sei zu seinen Gunsten gesagt – sehr ernst nimmt und nicht nur als Stufe auf dem Aufstieg im Hamburgischen Ämterdschungel auffasst.
Da ist die Tatsache, dass sich Beneke praktisch in jede einigermassen hübsche junge Frau verliebt, die ihm übern Weg läuft. Einerseits Zeichen der geistigen Verfassung jener Jugend zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, die sich eingespannt findet zwischen Empfindsamkeit und Romantik, andererseits Zeichen auch der sexuellen Nöte einer Jugend, die zu Prostituierten nicht gehen kann oder will, aber von auf gleicher Stufe stehenden weiblichen Wesen natürlich nicht Sex fordern soll (Beneke unterhält deshalb offenbar die eine oder andere – auch im Tagebuch nur diskret angedeutete – Liebschaft mit Dienstmädchen), zum dritten auch Zeichen der persönlichen Not Benekes, dessen ganz grosse Liebe zu jener Zeit ein Mädchen war, das bereits einem Freund verlobt war.
Da ist die Tatsache, dass der Armenverwalter Beneke selber immer hart an der Grenze zur Armut lebt. Nachdem er endlich für sich selber ein bescheidenes aber genügendes Auskommen gefunden hat, muss er erleben, wie sein Vater endgültig alles Vermögen verliert und als pflichtbewusster Sohn muss nun natürlich er für die Eltern sorgen. Der bürgerliche Mittelstand, der sich zu jener Zeit zu bilden begann, war noch eine sehr unsichere Sache; so mancher ist wieder aus dem Raster gefallen.
Da ist die Tatsache, dass Beneke Anfällen von Hypochondrie unterliegt, depressiven Schüben, in denen er nicht nur jede Krankheit kontrahiert zu haben glaubt, die gerade umgeht, sondern in denen er mit Todessehnsucht und Todesfurcht gleichzeitig zu kämpfen hat. Beneke war halt auch hierin kein Goethe, der sich so etwas mit Werthers Leiden vom Leib schreiben konnte.
Der Kuriosität halber sei noch angemerkt, dass Beneke in seinem Tagebuch immer systematischer vorgeht. Nicht nur steht bei jedem auftauchenden Namen in Klammern dabei, wann der Name zum letzten Mal im Tagebuch (und somit in Benekes Leben) erschienen ist – das war schon in den vorher gehenden Jahren so. Sondern er beginnt nun systematisch seine Bekannten und Freunde zu – nummerieren. Häufig erscheinende Namen, die aber verschiedenen Personen zugeordnet werden können, werden so unterschieden: „Dr Griess I“ ist der Vater von „Dr Griess II“, oder dann der ältere Bruder. Zwei Familien Zimmermann, mit denen er in Kontakt steht, unterscheidet er nach „PZimmermann“ für die Familie des Pastors Zimmermann und „KZimmermann“ für die des Kaufmanns. Diese Siglen werden in einem speziellen Verzeichnis (das von Beneke selber stammt!) aufgelöst. So etwas belustigt den aussenstehenden Leser, aber bei der Menge an Bekannte, die Beneke mittlerweile aufzuweisen hat, ist das wohl ein unumgängliches Muss, wenn man nicht jedes Mal die ganze Genealogie seiner Freunde notieren will.