W. Hochkeppel: Modelle des gegenwärtigen Zeitalters (inkl. Marcuse-Bashing)

Hochkeppel stellt in diesem Buch Kulturphilosophen (im weitesten Sinne) des 20. Jahrhunderts vor – besser: Deren geschichts- bzw. kulturphilosophischen Entwürfe. Das Zeitalter der großen kulturphilosophischen Konzeptionen ist ohnehin vorbei, nur einzelne, zumeist unter esoterisch-zeitgeistiger Flagge segelnde Pseudophilosophen unternehmen es noch, die Welt und ihre Geschichte unter dem Aspekt von ein oder zwei Gedanken meist trivialer Provenienz erklären zu wollen. Ernst genommen werden sie selten – zumindest nicht im akademisch-wissenschaftlichen Bereich, während man für den im Buch behandelten Zeitraum (Erscheinungsdatum 1973) des 20. Jahrhunderts noch auf viele solche Wissende zurückgreifen konnte: Geschichtsphilosophen wie Spengler oder Toynbee, Erzeuger von „neuen Menschen“ wie Alfred Weber (der – zu Recht – heute völlig in Vergessenheit geraten ist) oder Herbert Marcuse, dessen Wunsch-Homo-Sapiens im Gegensatz zu Webers Homunculus politisch links stehend gedacht werden muss. Aber Hochkeppel verweist auch auf die liberale Tradition eines Popper oder den behavioristisch-wissenschaftlichen Entwurf eines B. F. Skinner.

Die meisten dieser Kulturkritiker pflegen ihre eigene Zeit als eine ganz besondere, Weichen für die Zukunft stellende zu betrachten. Die Bestandsaufnahme des status quo fällt häufig ungünstig aus: Zumeist ist eine Rettung vor dem sich ankündigenden Untergang (für den sich geschichtlich immer und überall Anzeichen finden ließen) höchst unwahrscheinlich (bei Spengler gar unmöglich, da die einem Organismus verglichenen Weltreiche zwangsläufig sterben), oft aber besteht die einzige Möglichkeit für die Menschheit darin, den Vorschlägen des Autors zu folgen, Vorschlägen und Ansichten, die dieser zumeist aus einer exklusiv-intuitiven Erkenntnis gewonnen hat.

Das Intuitive, der alles durchdringende Blick auf die Weltgeschichte pflegt sich im übrigen nicht selten über historische Fakten hinwegzusetzen bzw. weiß mit diesen Fakten sehr kreativ umzugehen, um sich das eigene Szenario bestätigen zu lassen. Einwürfe, dass da einiges bezüglich der Faktenlage im argen wäre, werden nicht selten mit dem Hinweis erledigt, dass der Kritiker eben noch überkommenen, alten Denkfiguren verhaftet wäre und deshalb grundsätzlich den gedanklichen Höhenflug des Prognostikers nicht verstehen könne. (Gebser antwortete etwa auf seine Kritiker, dass sie noch dem alten, dreidimensionalen Denken verhaftet seien, während er aus Sicht des aperspektivischen, vierdimensionalen Zeitalters schreibe. Wer nun etwa nicht weiß oder versteht – auch nach Lektüre seines Buches – was dieses aperspektivische Denken bedeute und genauere Definitionen erheischt, zeigt sich durch diese Frage bereits als unfähig, die Gesamtkonzeption zu verstehen, da Definitionen in diesem aperspektivischen Denken obsolet sind*. Ähnliche Strategien, seine eigene Position dadurch unangreifbar zu machen, dass man Kritik von einem bestimmten (meist die in Frage stehende Philosophie bejahenden) Standpunkt abhängig macht, gibt es im Rahmen solcher geschichtsphilosophischen Spekulationen sehr häufig – und nicht nur dort.)

Ein anderes Phänomen ist die Popularität solcher Geschichtsprophetien – unabhängig, ob sie christlich-esoterisch (wie bei Teilhard de Chardin), schicksalhaft-fatalistisch (wie bei Spengler) oder links-futuristisch (wie bei H. Marcuse) sich gebärden. Wobei die Überraschung im christlich-esoterischen Bereich weniger groß ausfällt, da die Anhänger schon ob ihrer Herkunft gewohnt sind, auch die obskursten und abstrusesten Behauptungen für wahr zu halten. Dass aber „Der eindimensionale Mensch“ Marcuses unter sehr vielen Linksintellektuellen zu einer Art Bibel werden konnte, überrascht denn noch: Vor allem wenn man sich den Inhalt dieses Elaborats in Erinnerung ruft. Mag seine Konsumkritik noch angehen und auf einige bedenkenswerte Punkte hinweisen (wobei das Richtige seine Kritik unter den falschen Voraussetzungen leidet), so bietet er nirgendwo eine auch nur im entferntesten praktikable Alternative. Das Wort „Revolution“ klang aber wohl derart verführerisch in jenen Zeiten, dass davon abgesehen werden konnte, wogegen überhaupt revoltiert werden und wohin dieser Weg führen sollte. Natürlich – gegen Ausbeutung, Versklavung – aber im Grunde gegen alles, ist doch das System als solches rettungslos verloren und jede nur teilweise Änderung desselben würde es in unverantwortlicher Weise weiter stützen.

Nun hat aber auch schon Marcuse gesehen, dass die meisten dieser armen Unterdrückten sich gar nicht befreien lassen, dass sie ihren sich verbessernden Lebensstandard nicht für revolutionäre Utopien gefährden wollten. Das allerdings ist nur auf die systematische Manipulation der Betreffenden zurückzuführen, die durch das Konsummodell auf subtile Weise weiter unterdrückt werden und ihre wahren Wünsche nicht zu erkennen vermögen. Und so muss man sich glücklich schätzen, einen Propheten vom Format Marcuses zu besitzen, der die Menschen von ihrem ihnen unbewussten Unglück durch eine große, allumfassende Revolution zu erlösen sich anschickt, eine Revolution, die den neuen Menschen gebiert, einen Menschen, von dem aber auch Marcuse nicht wirklich weiß, welche Eigenschaften er besitzen wird. (Im übrigen beweist auch hier derjenige, der sich gegen diese Utopie wendet, dadurch die Notwendigkeit der Revolution: Denn er ist ja das offenkundige Produkt der Manipulation des allumfassenden Systems, ansonsten könnte er nicht die apostrophierte Notwendigkeit bestreien.)

Das Ergebnis dieser Umwälzung ist dann ein Mensch, dessen Triebstruktur „revolutioniert“ werden müsse und der dann in einer Welt der Stille und der Schönheit vor sich hinlebt. Das Bedrückende und Gefährliche solch idyllisch anmutender, zwangsweiser Änderungen im Menschen wird durch die Frage evident, wer denn nun die Entscheidung für diese Weichenstellungen einer entsprechend geänderten Triebstruktur trifft. Marcuse selbst, seine Anhänger, andere erleuchtete Personen? Hier werden ganz offensichtlich Konzepte vertreten, die jedes diktatorische Regime in seinem Beglückungskatalog aufgenommen hat: Der Führer oder eine bestimmte Klasse wissen kraft besonderer Erkenntnis, was für den Rest der Menschheit das Richtige ist.

*) Ansonsten ein Verteidiger der Wikipedia ist der Artikel über Jean Gebser in einer Weise abgefasst, die in einem Nachschlagewerk deplatziert ist. Ein offenkundiger Anhänger der Philosophie Gebsers singt eine Lobeshymne ohne jede kritische Distanz, ohne jeden kritischen Unterton. Ein subjektiver Essay, der dort nichts verloren hat.

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