Unter Arno-Schmidt-Aficionados gilt es als ausgemacht, dass ein grosses Desideratum eine valable Ausgabe des gesamten Briefwechsels des Meisters wäre. In der Zwischenzeit müssen sie sich mit Ausgaben wie dieser behelfen – deren Zielpublikum allerdings offenbar das breite Publikum war und nicht der Aficionado.
Chronologisch geordnet finden wir Briefe von Arno Schmidt an verschiedenste Empfänger. Leider fehlt schon mal ein Inhaltsverzeichnis, anhand dessen man sich orientieren könnte. Der Band enthält Briefe an Jugendfreunde, an diverse Amtsstellen, an seine Frau Alice, an Lektoren und Verleger, an den Bundeskanzler Willy Brandt (der ihm zum 60. Geburtstag gratuliert hat) usw. usw. Nach welchen Kriterien die Auswahl getroffen wurde, bleibt unklar, auch wenn es in einer Art Vorwort auf S. 4 heisst:
Alle Texte dokumentieren Schmidts Selbstverständnis als Schriftsteller; einige Briefe sind selbst literarische Zeugnisse.
Beides stimmt so nämlich nicht. Viele Briefe betreffen auch nur Schmidts aktuelle Lebenssituation. Die Kommentare sind ähnlich erratisch. Vieles lassen die Herausgeber, Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach, dem Autor unbesehen durchgehen (ob er tatsächlich tagelang nur von verschimmeltem Brot gelebt hat, wage ich anzuzweifeln), anderes wird behutsam-nachsichtig korrigiert (so Schmidts des öfteren auftauchende Behauptung, vor Kriegsausbruch studiert, Mathematik studiert zu haben), Schmidts Selbststilisierung als Autor, der durch die Nazis und den Krieg um ein, zwei Jahrzehnte zurückgeworfen wurde, bleibt dann wieder im Raum stehen.
Schmidts Angst und Dégoût, als er wegen seiner Seelandschaft mit Pocahontas wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt wurde, weswegen er froh war, ins protestantische Darmstadt umziehen zu können, wird in seinen Briefen nur angedeutet. Sein Ekel an der Grossstadt Darmstadt, sein Wunsch nach einem kleinen Häuschen in der Heide kommt dann schon deutlicher zum Vorschein. (Sogar der Bauplan zu einem kleinen Fertig-Eigenheimt ist in diesem Band reproduziert!)
Während Schmidts nie einfaches Verhältnis zu seinen Lektoren und Verlegern einigermassen dokumentiert ist (Briefe an Kurt Marek oder Heinrich Maria Ledig-Rowohlt als Beispiel, der Band enthält auch Briefe an andere), bleibt das zu seinen Schriftsteller-Kollegen so ziemlich im Dunkeln. Andersch und Heißenbüttel tauchen auf, weil sie als verantwortliche Redaktoren literarischer Nachtprogramme beim jungen deutschen Nachkriegs-Rundfunk Arno Schmidt so manche Möglichkeit zuschanzen, über einen abgelegenen Autor ein Radio-Feature zu schreiben – Brotarbeiten, die Schmidt dringend benötigte. Entsprechend höflich sind Schmidts Briefe an die beiden. Ob freundschaftliche Verhältnisse be- oder entstanden, bleibt unklar. Heinrich Böll wird kontaktiert, weil zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Seiten der Schmidts die Idee virulent war, nach Irland auszureisen. (Da der irische Staat allerdings den Nachweis eines sicheren Einkommens verlangte, wurde diese Idee wieder fallen gelassen – dies erfährt man aus dem Kommentar.) Einladungen zum (west- oder ostdeutschen) PEN-Zentrum schlägt Schmidt ebenso aus, wie welche zur Gruppe 47, weil er sich als prinzipiell ungesellig empfindet und nicht vorlesen will.
Die bekannteste von Schmidts literarischen Freundschaften, die mit Hans Wollschläger, wird relativ ausführlich dokumentiert: Über ein Dutzend Briefe an den Jüngeren finden wir. Unter anderem erfahren wir von Schmidts nachgerade krankhaftem Wahn, dass die Verantwortlichen des Karl-May-Verlags seine und Wollschlägers kritische Publikationen zu Karl May auf legale und auf illegale Weise zu sabotieren versuchten; wir erfahren, dass Schmidt in seiner üblichen Selbstüberschätzung dem studierten Musiker Musiktheorie beibringen wollte und ihm seine Adorno-Interpretation aufdrängte; wir sehen, dass bei der gemeinsamen Poe-Übersetzung Wollschläger immer wieder von Schmidt bekrittelt wurde – aber das sind nur vage Hinweise auf die von Seiten Schmidts auf jeden Fall, von Anfang bis Ende, als Verhältnis von Meister (= er, Schmidt) und Meisterschüler (= Wollschläger) aufgefasste Beziehung der beiden. Was diese Beziehung, diesen Briefwechsel, angeht, ist m.M.n. immer noch Guido Grafs Dissertation von 1995 – Über den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger – das Nec plus ultra. Hier besteht das eingangs erwähnte Desideratum einer guten Ausgabe tatsächlich.
Die Briefe sind nummeriert, am äusseren Seitenrand in einer serifenlosen Schrift. Das ist typografisch sehr schön, erschwert aber das Suchen ungemein, wenn man im Verzeichnis der Adressaten die Nummer eines Briefs aufgestöbert hat. Die Jahreszahlen hingegen haben einen prominenten Platz in der Mitte des Textes erhalten. Aber wer sucht schon einen Brief nach einem bestimmten Jahr?
Alles in allem ist also dieses im Suhrkamp-Verlag erschienene Buch ganz eindeutig eher an den gelegentlichen Schmökerer gerichtet als an jemand, der halbwegs ernsthaft Informationen von, zu und über Arno Schmidt verarbeiten möchte. Der Titel übrigens stammt aus einem Brief des Strohwitwers Schmidt an seine Frau Alice. (Im Original allerdings hat Schmidt zwei Ausrufezeichen verwendet.) Weshalb und wozu er zum Postauto wollte, bleibt ungeklärt. Weshalb und wozu gerade dieser Satz es in den Titel des Bandes schaffte (ausser natürlich, dass er einen hervorragenden ‚Eye-Catcher‘ bildet), ebenso. Das ist leider symptomatisch für diese Ausgabe. Ich hatte von einer Edition der Arno Schmidt Stiftung mehr und anderes erwartet. Aber das war vielleicht mein Fehler.