Lawrence Ferlinghetti: Notizen aus Kreuz und Quer [Writing Across the Landscape]

Links ein dünner roter Rand vom Buchrücken. Für den Rest des vorderen Buchumschlags wurde eine von Ferlinghetti erstellte Kohlezeichnung mit dem Titel "I've been around" benutzt - die also schwarz-weiß ist. Das ganze Bild stellt eine stehende nackte Frau von vorne dar, die ihren linken Fuß auf eine Weltkugel stellt. Der von mir gewählte Ausschnitt zeigt das rechte Knie der Frau, den linken Fuß und einen Teil der Weltkugel.

Anlässlich seines 100. Geburtstages, den er am 24. März 2019 feiern konnte, ernannte seine Heimatstadt San Francisco dieses Datum zu einem lokalen Feiertag, dem ‚Lawrence Ferlinghetti Day‘. Diese Ehrung galt sowohl dem Dichter wie dem Maler, dem Buchhändler (und, 1953, Gründer des ‚City Lights Bookstore’ in dieser Stadt, einer Buchhandlung, die heute noch existiert) und Verleger (Gründer des 1955 der Buchhandlung angegliederten Verlags gleichen Namens). Das war nicht ganz selbstverständlich, wurden doch die Mitarbeitenden von Buchhandlung und Verlag 1957 wegen Verkauf bzw. Veröffentlichung des Werkes Howl von Allen Ginsberg angeklagt. In einem Musterprozess wurde die Anklage vor dem Obersten Gericht abgewiesen unter Verweis auf das so genannte ‚First Amendment‘, das die Redefreiheit garantiert.

Seither gilt auch Ferlinghetti als Teil der so genannten ‚Beat Generation‘. Obwohl er sich als Dichter selber nie dazurechnete, ist es tatsächlich so, dass er mit Veröffentlichungen von Werken von Ginsberg oder Kerouac viel dazu beigetragen hat, diese Strömung in einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Ferlinghetti betrachtete Buchhandlung wie Verlag und auch seine eigene Arbeit, sein eigenes Denken als links und libertär (wobei er in seinen hier vorliegenden Reisenotizen ganz klar einen linken Libertären, der die Rede- und Gedankenfreiheit einfordert, unterscheidet vom rechten Libertären, der darunter die Freiheit des rücksichtslosen Geschäftemachens versteht). Obwohl er im Zweiten Weltkrieg als Steuermann eines U-Boots diente, betrachtete er sich später auch als Pazifisten. Diese seine Standpunkte würde er sein Leben lang behalten.

San Francisco als Heimatstadt zu bezeichnen, wie ich es oben getan habe, ist – bei Ferlinghetti mehr noch als bei anderen US-Amerikaner:innen – natürlich nur mit äußerster Zurückhaltung machbar. Als Sohn eines italienischen Einwanderers und einer Mutter mit portugiesisch-sephardischen Wurzeln kam er am 24. März 1919 in Yonkers im Bundesstaat New York zur Welt. Sein Vater war kurz vor seiner Geburt an einem Herzschlag verstorben. Die Mutter brach unter der Belastung zusammen und Lawrence wurde zu einer Tante in Frankreich gegeben, bevor er dann bei verschiedenen Pflegeeltern in den USA lebte. Es sollte von seiner Kindheit in Frankreich ein lebenslange Liebe zu Land und Leuten zurückbleiben. Er studierte an der University of North Carolina, Chapel Hill, weil dort auch sein damaliges Idol Thomas Wolfe studiert hatte. Später würde er mit einem Stipendium der US-Regierung an der Sorbonne sein Doktorat machen. So darf es uns nicht verwundern, wenn einige seiner hier vorliegenden Texte auf Französisch abgefasst sind. (Ja, spätere Notizen werden auch schon mal auf Italienisch verfasst.)

Aber was haben wir hier genau vor uns? Travelogues 1960-2010 lautet in der deutschen Version der Untertitel des Buchs, aber was ist damit gemeint? Nun, Folgendes:

Ferlinghetti – ein weiterer Grund, warum wir San Francisco nur cum grano salis seine ‚Heimatstadt‘ nennen können – reiste sein Leben lang. Zunächst einfach so, auf eigene Rechnung und deshalb auch oft per Anhalter. Mit zunehmender Bekanntheit wurde er in ganz Europa, in Nord- und Mittelamerika (Mexiko ist das Land, das er am meisten besucht hat) zu Lesungen und Literatur-Festivals eingeladen. Ferlinghettis Schreiben leitet sich nicht nur von Wolfe ab oder von Pound – mit zunehmendem Alter werden seine Wurzeln im Dadaismus und im Surrealismus immer sichtbarer. Denn natürlich ändert sich in 50 Jahren die Art seines Schreibens. Die Travelogues aus den 1960ern sind bedeutend impressionistischer als seine späteren, wo äußere Impressionen mehr und mehr verarbeitet werden und zum Bewusstseinsstrom mutieren oder gar zu Traumerzählungen. (Bei denen er mich wiederum an Kerouacs Book of Dreams erinnert – so ganz aus dem blauen Himmel ist die Zuordnung seines Schaffens an die Beat Poesie nicht geholt.) Aber bei allen Änderungen bleibt eine gewisse impressionistische Grundlage erhalten. Oft genug hält Ferlinghetti in seinen Notizen Erlebnisse, Gesichter oder Bilder von unterwegs fest – über die Lesungen oder die Festivals, an denen er teilnimmt, erfahren wir blutwenig.

(Nebenbei: Bilder – nämlich Kohlezeichnungen – des Autors, der sich ja nicht nur als ‚Schrifsteller‘ verstand, sind dem Buch auch beigegeben. Oft sind es genau jene, über die er auch im Text spricht, oft welche, die er zumindest zur gleichen Zeit am gleichen Ort erstellt hat. So oder so erhalten wir in diesem Buch auch einen Einblick ins zeichnerische Werk Ferlinghettis.)

Am wenigsten impressionistisch, am ehesten journalistisch (aber auch am trockensten und ungenießbarsten) kommt Ferlinghetti in jenen beiden „Reiseberichten“ herüber, die er über zwei kürzlich erst erfolgte revolutionäre Umstürze in Mittelamerika liefert: den über Kuba kurz nach der siegreichen Revolution Fidel Castros und den über die Revolution der Sandinistas gegen die Somoza-Dynastie in Nicaragua. Ferlinghetti weiß, dass er sich nur schon mit seinen Besuchen in Gegensatz zu der öffentlichen Meinung und der offiziellen Politik der USA stellt. Dennoch will er eine unabhängige Stimme und Meinung zu Protokoll geben. Wie weit man ihn auf seinen geführten Touren ganz einfach getäuscht hat, will ich nicht beurteilen. Ferlinghetti selber war sich ja jeweils im Anschluss an seine Reisen nicht sicher. Jedenfalls fällt auf, wie steif und ungelenk er hier berichtet, während er ansonsten seine Erlebnisse mit Wärme und Liebe genießen konnte. (Außer vielleicht in jenem Moment der Desillusionierung, als er an der Endstation der Transsibirischen Eisenbahn feststellen musste, dass er als US-Amerikaner ein Visum benötigt hätte, um den Dampfer nach Japan zu besteigen, was man ihm beim Antritt der Reise verschwiegen hatte. Zu allem wurde er in Sibirien noch schwer krank und konnte erst mit einiger Verzögerung nach Moskau zurückkehren, von wo er mit dem Flugzeug nach Westeuropa flog. All dies geschah noch in der Zeit der UdSSR – die er, nebenbei, kritischer beurteilte als Castros Kuba oder das Nicaragua der Sandinistas.)

Das Buch ist 2015 noch von Ferlinghetti selber veröffentlicht worden, aber erst dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Soll man es lesen? Unbedingt. Jedenfalls wenn man an den Erlebnissen und Impressionen eines linken, anarchistisch-libertären aber pazifistischen US-Amerikaners interessiert ist, der mit seinen Reisen praktisch ein halbes Jahrhundert abdeckt – jenes halbe Jahrhundert, in dem sich die Welt politisch wie ökonomisch rasant zu verändern begann. Auch spielt seine politische Einstellung bei seinen Beobachtungen und Impressionen nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht immer der Humanist, der Menschenfreund. Und auch wenn Ferlinghetti Südamerika oder Asien kaum und Afrika gar nicht besucht hat, so hat er doch genug von der Welt gesehen, um sich und uns die Brüchigkeit der so genannten westlichen Kultur (wie sie gerade wieder von gewissen Kreisen als ‚Leitkultur‘ zelebriert wird) vor Augen zu führen. Bei aller intellektuellen Wachsamkeit ist es auch eine vergnügliche Lektüre – literarisch, sprachlich, inhaltlich. Ferlinghetti beobachtet genau und registriert präzise – wenn auch nicht immer das, was wir in der gleichen Situation zur Kenntnis nehmen würden. Von klassischer Kunst und klassischen Denkmälern nimmt er zum Beispiel verblüffend wenig Notiz. Ihn interessiert der Mensch. Nehmen wir hinzu, dass er sich zu jeder Sekunde seines auf sein Individuum eingeschränkten Sinnes- und Denkapparates bewusst bleibt, so können wir dieses Buch nur empfehlen.

Die rund 550 Seiten Text (darunter auch viele Gedichte) sind ausgezeichnet übersetzt (soweit sich das ohne Blick ins Original festhalten lässt). Anmerkungen und ein Index der vorkommenden Personen, Kunstwerke und Örtlichkeiten runden das Werk ab; die erwähnten, großzügig eingestreuten Illustrationen (Kohlezeichnungen, die von Ferlinghetti selber stammen) stellen das Sahnehäubchen dar.

Ein „Reisebericht“, der nicht nur über Orte und Menschen berichtet, sondern auch über Kunst und Literatur, der politisch ist und doch poetisch – lesenswert!


Lawrence Ferlinghetti: Notizen aus Kreuz und Quer. Travelogues 1960-2010. Aus dem amerikanischen Englisch von Pocaio. Köln: Kupido Literaturverlag, 1)2023. [Erschienen in der Reihe ‚Kupido Travelogue‘, als N° 4.]

Besten Dank an den Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar. Ich habe es pünktlich zur Lektüre an Ferlinghettis 105. Geburtstag auf meinem Schreibtisch gehabt.

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