So weit – so bekannt. Allerdings hat schon Apuleius in der Antike darauf hingewiesen, dass hier ein Irrtum vorliegt (ebenso der mit logischen Problemen vertraute Leibniz: Eines sei die Verneinung einer Aussage, das andere die Verneinung eines Prädikates. Wo liegt nun hier das Problem?
Man möchte meinen, dass die Verneinung von „Kreter lügen“ im Satz „Kreter lügen nicht“ besteht. Aber dem ist nicht so. Formal wird behauptet:
∀(x): p(x) (Für alle x gilt p(x))
Die Negation dessen ist aber:
∃(x): ¬ p(x)
Das bedeutet, dass im ersten Falle der unterstellten Wahrheit des Satzes der Schluss richtig ist, im zweiten Falle jedoch wird durch die Falschheit festgestellt, dass es mindestens einen Kreter gibt, der nicht lügt. (Ob das Epimenides ist – oder auch nicht – bleibt ungeklärt. Daher kann überhaupt keine Schlussfolgerung gezogen und von einer Antinomie nicht gesprochen werden.)
Das alles ist nun kein großes Geheimnis, hier wird das formal dargestellt und auf den Unterschied zwischen kontradiktorischem und konträrem Urteil hingewiesen. Für das – schier unerreichte – philosophische Genie aus Tellkamps Buch (der die platte Antinomie behauptet) ist das aber fatal und beispielhaft für die Genies in Romanen: Sie sind üblicherweise nicht klüger als ihr Demiurg und schon deshalb sollte dieser derlei mit Bedacht handhaben.
Im übrigen sind diese Lügenparadoxa ohnehin mit Vorsicht zu genießen: Der Satz „Alles, was ich sage, ist falsch“ eignet sich auch für eine derartige Analyse. Hier liegt aber auf der Hand, dass der Sprecher von einer Art Metaebene aus spricht: Er spricht über alle Sätze, die er geäußert hat oder äußern wird – ausgenommen den soeben ausgesprochenen Satz. (Diese Form von Rückbezüglichkeit zu vermeiden war auch Tarskis Intention – bzw. die von Russel in der Mengenlehre – und führte zur Einführung vorgenannter Ebenen.)
Und wie steht es mit dem Satz: „Dieser Satz ist falsch!“? Nun sind Wahrheit und Falschheit bekanntlich an Urteile geknüpft, ein Stein oder ein Baum können nicht wahr (oder falsch) sein, hingegen die Aussage „Hier liegt ein Stein“ oder „Dort steht ein Baum“, wobei mit „hier“ bzw. „dort“ auf raumzeitliche Koordinaten verwiesen wird. Worauf aber wird im Satz „Dieser Satz ist falsch“ verwiesen? Wenn man ihn verkürzen würde, käme man auf „Dies ist falsch“ bzw. noch kürzer „falsch“. Und man merkt bereits, dass der Zuweisung „falsch“ überhaupt kein Urteil zugrunde liegt. Wahrheitsprädikate aber haben Urteile zur Voraussetzung, wo ein solches nicht vorliegt, gibt es auch keine Antinomie.
Im übrigen wird die Bedeutung dieser Antinomien überschätzt: Douglas Hofstadter etwa echauffiert sich immer wieder in seinen Büchern über die Russelsche Ignoranz, dass dieser die Beweise Gödels ignoriert hätte. (Inwieweit das für Russel stimmt, kann ich nicht beurteilen. Ich meine aber gelesen zu haben, dass er diese Beweise sehr wohl zur Kenntnis genommen hat, allerdings nicht für so gewichtig erachtete.) Wann aber sind die Gödelschen Sätze tatsächlich fatal? Immer nur unter der Voraussetzung, dass ich ein völlig konsistentes System zu entwerfen beabsichtige, in dem alle Sätze entscheidbar sind. Diese Perfektion ist – hier taucht das Problem der Letztbegründung auf – nicht zu erreichen. Das bedeutet aber keineswegs, dass überhaupt keine Sätze entscheidbar seien – im Gegenteil: Die meisten Sätze sind sehr wohl entscheidbar und die meisten Antinomien sind vermeidbar. Die Tatsache, dass es in Systemen unbeweisbare Sätze gibt und dass hinreichend komplexe Systeme ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen können, hat nicht – wie bei Hofstadter – die völlige Bankrotterklärung der mathematischen Logik nach sich gezogen. Sondern nur gezeigt, dass absolutes Wissen nicht erreichbar ist.