James Woodforde lebte von 1740 bis 1803. Seit seinem 19. Lebensjahr führte er Tagebuch. Zum Schluss sollte dieses Tagebuch 72 Notizbücher und zusätzlich über 100 lose Blätter umfassen. In England ist Woodforde recht bekannt und geniesst Kultstatus. Im deutschen Sprachraum kennt man ihn kaum – nicht einmal zu einem Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia hat er es gebracht. Eine deutsche Übersetzung seiner Tagebücher existert m.W. auch nicht. Ich habe vor mir eine von David Hughes getroffene Auswahl in einem Band, die 1992 bei der Folio Society zum ersten Mal erschienen ist, mittlerweile (2015) in der 7. Auflage existiert, was Woodfordes ungebrochene Popularität im englischen Sprachraum beweist.
Natürlich tut eine einbändige Auswahl der eigentlichen Qualität der Woodforde’schen Tagebücher Unrecht. Aber ich weiss nicht, ob ich mich durch 72 Bände hätte hindurch kämpfen können. Denn im Gegensatz zu seinen noch berühmteren Brüdern im Geiste des Tagebuchschreibens, Pepys und den beiden Goncourts, ist Woodforde ganz und gar kein Stadtmensch. Pepys und die Goncourts benötigten die Grossstadt zum Leben wie andere Sauerstoff zum Atmen. Immer war etwas los im London des 100 Jahre vor Woodforde lebenden Peyps, immer war etwas los im Paris der 100 Jahre nach Woodforde lebenden Goncourts. Woodforde führt mit derselben Pingeligkeit Tagebuch, aber bei ihm ist genau – nichts los.
Der 19-jährige Student begann mit Tagebuchschreiben auf Anhalten seines Vaters, der wünschte, dass James seine täglichen Ausgaben notiere. Dies wird bis zum Schluss ein wichtiger Punkt in Woodfordes Tagebüchern bleiben, auch wenn der spätere Landpfarrer wohl kaum Not gelitten hat – konnte er sich doch in seiner Pfarrei zwei weibliche und zwei männliche Dienstboten leisten, dazu einen Jungen für diesen oder jenen Botengang, eine Nichte (ich komme darauf), sowie später auch Stellvertreter, die für ihn predigten, wenn es ihm nicht gut ging. Die Dienstboten sind natürlich ein immer wiederkehrendes Thema der Tagebücher: Die jungen Frauen haben die Tendenz, unverheiratet schwanger zu werden; die männlichen Bediensteten neigen dazu, junge Frauen zu schwängern und/oder übermässig viel Alkohol zu trinken.
Woodforde erlebte die Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, der ja im Grunde genommen Teil des wirklich ersten Weltkriegs war. Er klagt zwar des öftern über die zunehmende Teuerung, die zunehmende Steuerbelastung, der er ausgesetzt ist, bringt aber die beiden Dinge offenbar nicht in kausalen Zusammenhang. Er folgt unreflektiert der Meinung, dass der König und die englische Regierung Recht daran tun, die aufrührerischen Rebellen in Amerika zurück zur Krone zwingen zu wollen, und betet in seiner Kirche für den König und für die im Kriegseinsatz stehenden englischen Soldaten (darunter einer seiner Neffen). Später wird er ebenso selbstverständlich und unreflektiert die Französische Revolution verurteilen und dafür beten, dass das revolutionäre Gedankengut nicht auch noch in England angeschwemmt werde. Doch wirklich tief bewegt hat ihn die Weltpolitik nicht. Nicht einmal die Regionalpolitik vermochte das.
Wichtig für ihn waren viel banalere Dinge: Sein Teich – jedenfalls so lange, bis er wieder hergerichtet war und Fische beinhaltete, die zum Fangen und Essen taugten. Seine Hunde, mit denen er Hasen jagte – wiederum für den Mittagstisch. Der Rum, den er als Schmuggelware kaufte (und beinahe erwischt wurde). Aber schon den Ausfluss aus seinen privities, den er dem Besuch einer jungen Dame verdankte, und der ihm im ersten Moment Todesangst einjagte, hatte er binnen kurzem vergessen. Was neben seinen finanziellen Einträgen bleibt, sind seine Einträge zu seinem täglichen Leben. Und da herrscht eine grossartige, schon fast episch zu nennende Monotonie. Praktisch jeder Tag der Tagebucheinträge aus der zweiten Hälfte seines Lebens beginnt mit:
We breakfasted, dined, &c. again at home.
Und seine Essen sind ihm wichtig: Zuerst nennt er nur bei den grösseren Essen, die er im Kreise seiner Landpfarrer-Kollegen einnimmt (ein Kreis, der sich abwechselnd bei jedem von ihnen einmal in der Woche traf), dann bei jeder Mahlzeit deren Bestandteile. Pasta finde ich genau zwei Mal erwähnt (einmal mag er sie gar nicht!), Gemüse ein bisschen mehr – vor allem aber ist interessant, wie viel Fleisch und wie viele Arten Fleisch auf den Tisch kommt. Die ganze englische Küche ist da vertreten, auch Schaffleisch, von dem wir auf dem Kontinent uns bis heute wundern, wie man das bei der englischen Zubereitungsart überhaupt herunterbringen kann. Oh ja, Woodforde ass und trank sehr, sehr gern. (Und wohl auch sehr viel.)
Im Übrigen ist Woodforde ein Mensch ohne viel Eigeninitiative. Er macht als Student am New College in Oxford keineswegs von sich reden – beweist aber gerade durch seine Einträge, dass der schlechte Ruf der Universität als (theologische) Lehranstalt zu seiner Zeit durchaus berechtigt war. Den Studenten waren die gemeinsamen Gelage viel wichtiger als der Lehrstoff. Später wird Woodforde während rund 10 Jahren seinen Vater unterstützen in dessen Pfarrei. Aber auch hier zeigte James zu wenig Initiative, um sich bei den zuständigen Stellen wirklich darum zu bemühen, dass er die Nachfolge seines Vaters antreten könnte (was zu seiner Zeit durchaus üblich gewesen wäre). So erhielt diese Pfarre ein Neffe von James – dem und dessen initiativerem Vater er daraufhin über Jahre grollte. Er ging also zurück als fellow an sein College in Oxford. Selbst seine Lebensstelle, eine Pfarrei in der Nähe von Norwich im Nordosten Englands, die das College in Eigenregie zu vergeben hatte und die es traditionell an seine fellows vergab, erhielt er nur, weil der in der Reihenfolge noch vor ihm stehende fellow diese Pfründe abgelehnt hatte. Und sogar bei der grossen Liebe seines Lebens ist er zu schüchtern und zu zurückhaltend – sie nimmt schliesslich einen anderen. James Woodforde nennt sie in seinem Tagebuch von da an ein „Flittchen“. Keineswegs Ereignisse also, die so herausragend wären, dass sie eine Lektüre lohnten.
Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Woodfordes Tagebücher – genau weil sie nur den Alltag schildern, den aber äusserst minutiös, wenn man alle Einträge zusammenstellt – dass Woodfordes Tagebücher also ein ungefärbtes und ungeschöntes Bild des ländlichen England im 18. Jahrhundert geben. Das studentische Leben in Oxford, die Art und Weise, wie zu jener Zeit Pfarrstellen vergeben wurden, werden hier aus erster Hand geschildert. Zwei Generationen später, bei Anthony Trollope, findet man genau dieselben Mechanismen immer noch im Gang. Die Art und Weise, wie der städtische Klerus auf die Landpfarrer hinabblickt, lässt sich bei Woodforde verfolgen. Das Schicksal ärmerer weiblicher Verwandter, die in einer Zwitterstellung zwischen Angestellter und Familienmitglied bei vermögenderen Onkeln oder Tanten unterkommen müssen, ist in Woodfordes Tagebuch ebenfalls exzellent geschildert – auch wenn James seiner Nichte gegenüber kaum Sympathie bekundet, wie er überhaupt seine eigenen Bedürfnisse, seine eigene Bequemlichkeit ganz naiv immer an die erste Stelle setzt.
Der letzte Tagebucheintrag datiert vom 17. Oktober 1802. Woodforde geht es nicht sehr gut; er kann kaum aufstehen und sich anziehen. Dennoch beginnt auch dieser Eintrag noch mit
We breakfasted, dined, […]
und endet auf
Dinner to day, Rost Beef&c.