Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen III.V

Nun ist die Katze aus dem Sack: Im Vorwort zum fünften Teilband von Band 3, zugleich dem abschliessenden Band seiner Aesthetik, gibt Vischer zu, dass der vierte Teilband, der zur Musik, nicht aus seiner Feder stammt:

Eine schwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der Musik ist nur im ersten, allgemeinen Teil (§§ 746–766) und in dem Anhange von der Tanzkunst (§ 833) von mir ausgeführt. Ein Freund, der philosophische Bildung mit tieferer Kenntnis der Musik vereinigt, Dr. Carl Köstlin, Professor in Tübingen, auf theologischem Gebiete durch historisch kritische Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings durch philosophische Vorträge auf der genannten Universität mit Beifall und Erfolg tätig, hat die übrigen Teile übernommen und im Anfange seiner Arbeit einiges freundlich überlassene Material von einem in die physikalischen Grundlagen und das technische System der Musik noch spezieller Eingeweihten, der nicht genannt sein will, benützt.

Mit andern Worten: Er, der von Musik zugegebenermassen nichts versteht (er kann, wie er im Folgenden zugibt, nicht einmal Noten lesen), hat die Aufgabe weitergereicht an zwei andere, die von Musik nicht viel mehr verstehen. Band III.IV hätte er wohl besser weggelassen…

Um so grösser war die Spannung, umso höher meine Erwartung geschraubt, wenn es nun im abschliessenden Teil um die Literatur ging. Sagen wir es gleich: Ich wurde enttäuscht. Vischer scheint seiner selbstgestellten Aufgabe müde geworden zu sein. Die allgemeinen Ausführungen zur Literatur sind im Grunde genommen nicht viel mehr als allgemeine Ausführungen über die Rhetorik und die Poetik, wobei er den Ahnherrn der Poetik, Aristoteles, nur gerade streift, wenn er – quasi in einem Nebensatz – dessen drei Einheiten der Dramatik als zu steif einstuft. Kein Wunder, ist doch William Shakespeare für ihn im Drama das Mass aller Dinge.

Wenn es um konkrete literarische Beispiele geht, unterscheidet Vischer zwischen Drama, Epik und Lyrik. Im Drama führt er – neben Shakespeare – Sophokles aus der Antike an, Goethe und Schiller aus der Neuzeit. Die Franzosen, die französische Klassik, ignoriert er; einzig Molière als Autor von Lustspielen (von Charakterstücken, wie er es nennt) findet Gnade und Erwähnung. Aus späterer Zeit wird Grillparzer erwähnt, wobei Vischer vom Österreicher offenbar nur dessen Schauerdrama Die Ahnfrau kennt (wenn auch nicht nennt). Zacharias Werner, den eigentlichen Vater des Schauerdramas, habe ich hingegen nicht gefunden.

In der Lyrik bevorzugt Vischer den volkstümlichen Ton, ergo Goethe und dann noch Herder, den Sammler der Stimmen der Völker in Liedern. Schiller ist ihm da zu gedankenschwer, wie er überhaupt meiner Meinung ist, dass Goethe der Lyriker, Schiller der Dramatiker der Weimarer Klassik waren. Weitere Lyriker sind Mangelware – Hölderlin wird einmal erwähnt, Rückert und Geibel; Heine fehlt. Nicht-deutsche Lyrik scheint Vischer kaum zu kennen.

Ähnlich wie in beim Drama ist Vischers literarisches Weltbild bei der Epik. Er bevorzugt das antike Epos, hat aber dabei das Problem (das er entweder nicht sieht oder einigermassen elegant überspielt), dass er eigentlich nur einen Autorennamen und zwei Epen anführen kann: Homer und die Ilias sowie die Odyssee. Im deutschen Altertum kennt er praktisch nur das Nibelungenlied (das in der Form, in der es auf uns gekommen ist, so alt gar nicht ist). Danach noch Versuche von Goethe und Voß – doch in der Neuzeit kommt der Roman. Hier zeigt sich nun allerdings ganz stark, dass Vischer zu einer Zeit schrieb, die heute als Übergang von der Goethezeit zur Moderne gilt, hellsichtigen zeitgenössischen Autoren wie Heine oder Immermann als Epoche der Epigonen. Die grossen Romanciers der deutschen wie der französischen Literatur sollten erst noch kommen. Vischer kann sich nur an Voltaire erinnern; die Engländer Swift und Sterne sind ihm zu satirisch für echte Epik. Im deutschen Sprachraum erkennt Vischer, dass weder Goethe noch Schiller genuine Epiker sind; Jean Paul – den er im ersten und zweiten Band dieser Aesthetik wenigstens als Ästhetiker ernst genommen hat – gilt ihm als Romancier wenig. Die Romantiker werden, wie praktisch immer in dieser Aesthetik, mit Schweigen bedacht.

Für einmal fehlt der Blick in den Orient, den Vischer sonst in der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur getätigt hat. Der obligatorische Anhang widmet sich der Satire, ohne dass Vischer neue Erkenntnisse vorzubringen hätte. (Oder auch alte – quant à ça.)

Alles in allem hat mich nicht nur der abschliessende Band der Aesthetik enttäuscht, sondern die ganze Aesthetik überhaupt. Vischer ist viel mehr, als ich es erwartet hatte, in den Anschauungen seiner Zeit und seines Orts befangen. Während die Befangenheit in der eigenen Zeit wohl schwer zu überwinden ist (wenn überhaupt), hätte er die des Orts meiner Meinung nach doch überwinden dürfen, zu einer Zeit als die Orientalistik z.B. schon in voller Blüte stand. Auch hatte ich auf ein weniger trockenes Buch gehofft, mehr Spitzen erwartet von der Art, wie Vischer sie in Auch Einer oder in seinem dritten Faust geliefert hat. So bleibt mir die Erinnerung an eine Aussage über Jean Pauls Romane:

J. Paul’s Styl geht von dem schweren Irrthum aus, daß die Sprache für sich ein dicker, salzüberfüllter Säuerling sein müsse, und quält uns mit der Entzifferung der lästig pikanten Form, wo wir den Inhalt suchen.

Und eine Aussage über den zeitgenössischen Roman (den Vischer offenbar nicht mochte):

Die Literatur hat Romane erlebt, deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen.

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