Nan Shepherd gehört eindeutig in die Tradition des so genannten ‘nature writing’, des Schreibens über die Natur. Dieses ‘nature writing’ kennt keine Handlung im üblichen Sinn. Wir finden nur Beschreibungen der Natur. Die Autorinnen und Autoren des ‘nature writing’ verbringen dafür meist längere Zeit (Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte) an immer dem gleichen Ort und beobachten die Veränderungen, die die Jahreszeiten und überhaupt die Zeiten an diesem Ort hervorrufen. Objekt der Beobachtung ist dabei die Natur im weitesten Sinn. Gestein und Erde ebenso wie Säugetiere oder Vögel – und alles dazwischen: Fische, Insekten genau so wie das Wasser von Seen oder vom Meer, selbstverständlich auch Sonne, Mond, Wolken und die Sterne am Himmel. Nur der Mensch kommt, wenn überhaupt, bestenfalls peripher vor: als Beobachter und als Besucher. Genaue Beobachtung und Beschreibung ist typisch für ‘nature writing’; das heißt aber nicht, dass die Autoren und Autorinnen zwangsläufig naturforschenden Bestrebungen folgen. Manchmal tun sie es sogar; aber es gibt auch welche, die zwar einen Vogel sehr genau beschreiben können, dessen naturwissenschaftlichen Namen aber weder kennen noch suchen.
Die Autorinnen und Autoren zeigen uns zwar keine Handlung, das bedeutet aber nicht, dass sie uns keine Weltanschauung zeigen. Abgesehen davon, dass schon der Entschluss, nur über die Natur zu schreiben und den Menschen mehr oder weniger bei Seite zu lassen, meiner Meinung nach einen gewissen Hang zur Misanthropie verrät und eine gewisse Technik-Feindlichkeit, können wir auch direkte Formulierungen des persönlichen, politischen oder philosophischen Credos der Schreibenden in den Texten des ‘nature writing’ finden.
Als Ahnherr dieser Art zu schreiben gilt Henry David Thoreau mit Walden (wobei er auch anderes, besseres in diesem Genre geschrieben hat), aber auch die hier schon vorgestellten John Burroughs und Henry Beston sind in ihrer Heimat bekannt. Deren Heimat ist nämlich auch bis heute die Heimat des ‘nature writing’: die USA. Vor dort aus hat sich dieses Genre zwar im übrigen englischen Sprachraum ausgebreitet, aber nicht im selben Ausmaß. Immerhin haben wir mit Nan Shepherd eine Schottin, deren vorliegendes Buch sogar als typisch für das ‘nature writing’ gelten kann. In der deutschen Literatur finden wir dieses Genre kaum – es sei denn, man möchte Barthold Heinrich Brockes, der im frühen 18. Jahrhundert seinen Garten über Jahre und Jahreszeiten hinweg in Gedichten besungen hat, dazu rechnen. Dann wäre er zugleich ein noch früheres Beispiel dieser Schreibart als Thoreau.
Zum Buch selber: Shepherds Gegend war nicht ihr Garten, sondern die Cairngorms, eine Berggruppe der Grampian Mountains im Nordosten von Schottland. Fünf der zehn höchsten Berge Schottlands und Großbritanniens stehen dort; mit etlichen weiteren Gipfeln über 1’000 m bilden die Cairngorms die größte hochgebirgsähnliche Berggruppe der gesamten britischen Inseln. Shepherd hält denn auch fest, dass trotz der – im Verhältnis nur schon zu den europäischen Alpen – nicht gerade beeindruckenden Höhe der schottischen Berge dort durchaus hochalpines Wetter herrschen kann, da die Winde und das Wetter von weither ungehinderten Zugriff auf diese Berggruppe haben. So hat sie denn auch schon noch im Juli Schnee auf schattigen Abhängen gesehen. Während Jahren war Shepherd immer wieder in den Cairngorms wandern; ihr Buch ist die Summa dieser Wanderungen, entstanden während des Zweiten Weltkriegs, aber erst 1977 veröffentlicht – ohne großes Echo in den Medien, wenn ich das richtig sehe.
Shepherds Buch stellt, wie gesagt, schon fast modellhaft ‘nature writing’ dar – und zwar welches vom Besten. Genaue Beobachtung, genaue Beschreibung und eine nicht üble Kenntnis in Botanik und Ornithologie sind ihr Markenzeichen. Dazu kommt, dass Shepherd (von Beruf Lehrerin für Englisch an einem schottischen College) natürlich ihre literarischen Klassiker kennt und sie ganz ungezwungen einfließen lässt: Shakespeare, Dante, Cervantes, Keats oder Yeats. Stil und Inhalt kommen unaufgeregt daher. Sie liebt diese Berge, beschönigt aber auch nichts; und die vielen Toten, die Wind und Wetter in diesem Gebirge gefordert haben, gehören für sie ebenso zur Natur wie der Adler, den sie unter sich von seinem Horst aufsteigen sieht. Selbst den von Thoreau ererbten Hang zur Darstellung ihrer Weltanschauung kann sie nicht ganz unterdrücken, auch wenn ihre Liebe zum (Zen-)Buddhismus und zur Mystik erst im letzten Kapitel aufscheinen, und auch da relativ unaufdringlich.
Alles in allem also auch für jemand wie mich, der ich solche Auslassungen nicht mag, eine durchaus angenehme Lektüre. Nicht, dass ich nun ihretwegen zu einem eigentlichen Wandergesellen geworden wäre oder gar zu einem Bergsteiger. Aber einen kleinen Einblick in die Faszination, die ein Berg auf Leute ausüben kann, habe ich doch gewonnen. Allemal eine angenehme Lektüre.
Nan Shepherd: Der lebende Berg. Eine Huldigung der Cairngorms. Mit einer Einführung von Robert Macfarlane [in der Shepherd u.a. mit Merleau-Ponty verglichen wird – ich kann nicht sagen, mit welchem Recht, denn ich kenne den Franzosen nicht]. Aus dem Englischen von Judith Zander. Berlin: Matthes & Seitz, 2017.
Gelesen in der dieses Jahr erschienenen Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg. Der Text ist dort in der Reihe Büchergilde unterwegs erschienen, einer Sammlung von Reiseberichten, von denen ich hier schon einige vorgestellt habe – eigentlich eine Fehletikettierung, denn Shepherd ist nicht in dem Sinne „gereist“, wie wir es normalerweise verstehen; sie „erwanderte“ über Jahre hinweg dieselbe Gebirgsgruppe und ihr Text ist formal mehr dem Essay zuzurechnen als dem Reisebericht.