Konfuzius als erstes Wort des Textes, nämlich des Mottos des ersten Kapitels, das seinerseits von Zhuangzi stammt und entnommen ist dem gleichnamigen Buch, das wiederum neben und zusammen mit Lao-Tses Daodejing das wichtigste Buch des Taoismus vorstellt (und hier im Buch mit seinem Ehrentitel Das wahre Buch vom südlichen Blütenland genannt wird) – ergo ein daoistisches Buch? Daoistische Science Fiction?
Wenn jemand in der so genannten westlichen Welt so etwas schreiben konnte und wollte, war es wohl Ursula K. Le Guin. Natürlich gab es Vorläufer. Da ist – in verschiedener Hinsicht übrigens, ich komme noch darauf – Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge zu nennen, das mit Erscheinungsjahr 1962 Le Guins Roman um neun Jahre vorausging. Und natürlich gibt es Nachfolger:innen, am interessantesten im Moment wohl Becky Chambers mit ihrer Wohlfühl-Science Fiction. (Während der bekannteste chinesische Science Fiction-Autor der Gegenwart, Cixin Liu, so weit ich ihn gelesen habe, keine Anklänge an die alten chinesischen Lehren aufweist.)
Anders als bei Becky Chambers kann man bei diesem Roman Ursula K. Le Guins nur bedingt von Wohlfühl-Science Fiction sprechen. Gleich zu Beginn finden wir den Protagonisten des Romans, George Orr(-well, ja natürlich), wie er aus einem durch Medikamentenmissbrauch induzierten Horrortrip erwacht. Seine Welt ist in unseren Augen recht dystopisch und weist offenbar wenig Wohlfühlmomente auf. Überbevölkerung führte zu Nahrungsmangel und Unterernährung (inkl. Mangelkrankheiten wie Kwashiorkor) auch in der einst privilegierten Ersten Welt. Der Klimawandel wiederum bewirkte eine übermäßige Erwärmung der Erde, so, dass nun in Portland, Oregon, wo der Roman im Jahr 2002 spielt, ständig warmer Regen fällt.
Warum aber der Medikamentenmissbrauch? George Orr hat festgestellt, dass er – wenn er allzu intensiv träumt – mit seinen Träumen die Realität zu ändern vermag. Er ist dann auch der einzige, der sich daran erinnert, wie die Welt vorher war. Doch Orr will die Welt nicht mehr verändern. Dazu darf er aber nicht mehr einschlafen, was zum Medikamentenmissbrauch geführt hat. Er wird nun zwangsweise dem Psychiater und Schlafforscher William Haber zugewiesen. Zuerst ungläubig, was das Ändern der Geschichte angeht, schließt er Orr an ein Gerät an, das dessen Hirnwellen misst und aufzeichnet. Nachdem Orr das Bild, das in Habers Praxis hängt, verändert hat und Haber, weil er dabei gewesen ist (= im selben Raum war? – Le Guin erklärt dieses Phänomen nie genau, braucht es aber für ihren Plot mehrmals), an das vorherige Bild ebenso erinnert, sich nun gezwungen sieht, Orr Glauben zu schenken.
Haber ist die faszinierendste Figur in diesem Roman. Nicht eigentlich böse, aber doch sehr selbstgefällig und egoistisch, bringt er den immer nachgebenden Orr dazu, in seinem, Habers, Sinn zu träumen. Haber hat, neben der eigenen Karriere, durchaus auch das Wohl der Menschheit im Sinn bei seinen Vorgaben. So suggeriert er Orr, dass es doch human wäre, die Überbevölkerung auf der Erde abzuschaffen. Doch Orrs Träume sind komplex und setzten Habers Vorgaben nie 1:1 um; die Welt, die Orr erträumt, weist nicht weniger Probleme auf als die alte. Im vorliegenden Fall zum Beispiel schafft sein Traum die Überbevölkerung zwar ab, aber er tut dies, indem er eine Welt erträumt, in der vor ein paar Jahren eine Seuche die Mehrheit der Menschen ausgelöscht hat. Den Rassismus schafft Orr ab, indem er eine neue Welt erträumt, in der alle Menschen eine graue Hautfarbe aufweisen. Krebs, die Geißel der Menschheit, wird abgeschafft, indem nun ein rigides Programm der Euthanasie existiert, bei dem Menschen, die man einer Erkrankung an Krebs verdächtigt, sozusagen auf der Strasse exekutiert werden können. Viele Dinge bleiben auch in allen Träumen gleich. Portland bleibt Portland, auch wenn es manchmal anders aussieht. Der Name des US-Präsidenten, fällt Orr auf, ist auch immer derselbe. Haber überlebt sämtliche Veränderungen ebenso wie die Frau, die Orr liebt – die er aber jedes Mal von neuem ‚erobern‘ muss. Ebenso bleibt in jeder Welt bis fast zum Schluss der seit langem im Nahen Osten schwelende Krieg erhalten, der in jeder Welt kurz davor ist, zu einem atomaren Weltkrieg auszuarten. „Wäre es nicht schön, Frieden auf Erden zu haben?“, fragt Haber Orr einmal kurz bevor der einschläft um zu träumen. Tatsächlich erwacht er in einer Welt, in der es keinen Krieg mehr gibt auf der Erde – weil alle Parteien raschestens Frieden geschlossen haben, um gemeinsam gegen die Bedrohung durch Aliens zu begegnen, die bereits den Mond erobert und dort sämtliche menschlichen Kolonien ausgelöscht haben.
Während uns die erste Hälfte des Romans die Weltenbildung Le Guins in Ruhe auskosten lässt, überstürzen sich die Ereignisse in der zweiten Hälfte nachgerade. In immer schneller werdendem Rhythmus träumt Orr, immer einschneidender werden die von ihm erträumten Änderungen. Irgendwann wird er dann seinem Psychiater an den Kopf werfen, dass alle seine radikalen Änderungen nichts verbessern und eine Philosophie entwickeln, die an den Weg des Daoismus erinnert. Doch Haber will nichts davon wissen. Er macht Orr aber das Zugeständnis, ihm beim nächsten Mal träumen zu lassen, dass er die Fähigkeit verliere, im Traum die Welt zu verändern. Er ist nämlich unterdessen so weit, dass er glaubt, die Hirnströme Orrs entschlüsselt zu haben, und sie nun sich selber induzieren zu können. Er will nun die Welt ohne Orr verbessern.
Doch Haber hat sich überschätzt und bringt die Erde an den Rand einer definitiven Auflösung. Im letzten Moment kann Orr sie retten, indem er zu Haber vordringt und dessen Maschine ausschaltet. Angeregt wird er dazu durch die unterdessen friedlich auf der Erde koexistierenden Aliens wie durch ein altes Lied, das er in einem Antiquitätenladen findet: With a Little Help from my Friends der Beatles. Doch dieses Mal bleiben Narben und die ganze Erdbevölkerung erinnert sich an die Zeit der Störung, ohne sie erklären zu können, denn, was bleibt, ist eine Erde, die ein Gemisch darstellt aus den verschiedenen Erden, von denen Orr geträumt hat – Aliens (aber friedlich gebliebene) inklusive.
Haber, der westlich orientierte Macher, hat sich überschätzt und liegt nun mit einem unrettbar zerstörten Hirn in einer Klinik. Orr, der den rechten Weg ging und nichts mit Gewalt ändern wollte, überlebt als kleiner Angestellter in einer Werkstatt für Gebrauchsgegenstände, die einem Alien gehört. Er trifft abermals auf seine Geliebte und muss abermals um sie werben – ist aber sicher, dass es gelingen wird, weil er in einer anderen Welt sogar schon einmal mit ihr verheiratet war und weiss, was sie mag und was nicht. (Auch der Charakter zumindest der Hauptpersonen scheint sich also in allen Träumen sehr ähnlich zu sein.)
Ein Wort noch zum Titel. Der englische Titel, The Lathe of Heaven, stammt aus einer Übersetzung des Zhuangzi ins Englische, die wie folgt lautet:
To let understanding stop at what cannot be understood is a high attainment. Those who cannot do it will be destroyed on the lathe of heaven.
Das ist ja im Grunde genommen auch, was uns die Autorin lehren will, allerdings verwirft die englischsprachige Sinologie diese Übersetzung heute, da sie – wie auch Ursula K. Le Guin später herausgefunden hat – insofern falsch ist, als es zur Zeit des Zhuangzi noch keine Drehbänke gab. (Wobei ich auch schon Töpferscheiben als ‚lathe‘ bezeichnet gefunden habe, was wohl eher dem Bild entspricht, das Le Guin mit dem Titel des Romans übermitteln wollte: Orr formt immer neue Welten auf der Töpferscheibe seiner Träume, indem er die alte Welt, den alten Krug, teilweise zerstört, um aus dem gleichen Material eine neue Welt, einen neuen Krug, zu formen.) Die deutsche Übersetzung des Romans von Joachim Körber und Johannes Riffel hat wohlweislich darauf verzichtet, von einer ‚Werkbank‘ oder ‚Drehbank‘ des Himmels zu sprechen. ‚Geissel‘ klingt da viel besser, auch wenn der Zusammenhang mit dem Inhalt nur cum grano salis zu erschließen ist.
Summa summarum: Wir haben hier das Märchen vom tumben Toren, vom Träumer, der im Traum seine Welt erfindet und so sein (relatives) Glück findet. Le Guin, dafür bekannt, dass sie literarische Grenzen auslotete und überschritt, hat in diesen Roman auch sehr viele Fantasy-Elemente verpackt. Vor allem wird Orrs Fähigkeit, neue Welten zu erträumen nie erklärt. Wir haben auch eine sehr spezielle Ausgestaltung des Genres der ‚Alternate History‘, mit starken Anklängen an Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge, wo sich auch verschiedene Ausformungen derselben Welt finden und Protagonisten sich plötzlich in Alternativ-Welten wiederfinden.
Zum Schluss noch dies: Orrs allererster Traum, wie er seiner Geliebten einmal erzählt, war, als der Krieg im Nahen Osten tatsächlich in einen weltweiten Atomkrieg ausartete, und er im Sterben sich die Welt neu (will sagen: ohne den Atomkrieg) erträumte. Daher auch seine Angst vor seinen Träumen, weil er weiß, dass die Welt durch hyperaktives Eingreifen nicht besser wird – im Gegenteil.