Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker

Hermann Diels ist mit diesem einen Buch berühmt geworden – jedenfalls unter den PhilosophInnen, PhilosophiehistorikerInnen und AltphilologInnen an den deutschsprachigen Universitäten. Sein Ruhm muss allerdings über Deutschland hinausgegangen sein; vor mir liegt ein Reprint der ersten Auflage dieses Werks von 1903, die von der Cambridge University Press so spät wie 2019 in ihrer Reihe Cambridge Library Collection (einer Sammlung seminaler geisteswissenschaftlicher Werke des 19. Jahrhunderts) veröffentlicht wurde. Tatsächlich ist dieser Reprint aktuell sogar die einzige Möglichkeit, den Text im Buchhandel erwerben zu können. Die Deutsche Nationalbibliothek führt zwar noch eine Ausgabe von 2020 vom Verlag der Weidmannschen Buchhandlung an (schon die erste Auflage war dort erschienen), hat das Buch aber nirgendwo in ihrem Bestand; ich vermute, dass es dann doch nicht heraus kam. Die letzte im Bestand vorhandene Auflage stammt von 2005. Sie ist einerseits im Buchhandel nicht mehr erhältlich, andererseits einfach ein Nachdruck der sechsten und letzten noch von Walther Kranz überarbeiteten Auflage in drei Bänden von 1951 / 1952. Nach dieser Auflage werden die Vorsokratiker bis heute denn auch zitiert.

Hermann Diels war seinerzeit von Eduard Zeller nach Berlin gelockt worden, der wegen einer anderen altphilologisch-philosophischen Arbeit auf ihn aufmerksam geworden war. So arbeitete er dort zunächst als Gymnasiallehrer, dann als außerordentlicher und zuletzt als ordentlicher Professor an der Universität Berlin. Die Fragmente der Vorsokratiker sind, wenn ich Diels’ Vorwort richtig interpretiere, aus einer Art Frustration entstanden darüber, dass eine geplante historisch-kritische Ausgabe der Vorsokratiker sich als ein von einem Einzelnen nicht zu bewältigender Brocken erwies. Primär war das Buch zu (universitären) Unterrichtszwecken konzipiert:

Das vorliegende Buch ist zunächst bestimmt, Vorlesungen über griechische Philosophie zu Grunde gelegt zu werden. Zum eindringenden Verständnis der Begriffe und Systeme ist es unerlässlich, an der Hand der Originalurkunden den Entwicklungsprozess des griechischen Denkens in statu nascendi zu beobachten. Willkürliche Auswahl der Fragmente wird stets als Hemmung und Bevormundung der Lehrenden und Lernenden [Diels formulierte tatsächlich schon 1903 gendergerecht!] empfunden werden. Darum strebt diese Sammlung Vollständigkeit der eigentlichen Fragmente und Mitteilung des wesentlichen biographischen und doxographischen Materials an. […] Der Kreis der Philosophie ist im antiken Sinne möglichst weit gezogen, so dass auch die exakten Wissenschaften, namentlich die Mathematik, berücksichtigt wurden. […] Die Anordnung des Ganzen musste die einzelnen Persönlichkeiten möglichst getrennt halten. Gegenüber der pragmatischen Zusammenfassung der Schulen, wie sie für die eigentliche Geschichtsschreibung nötig erscheint, hat es ein gewisses Interesse, nun auch einmal die Individuen als solche zu betrachten, die wenigen Grossen und die unzähligen Kleinen, deren emsige Arbeit freilich nur in der Massenwirkung zu Tage tritt, welche die unbegreiflich rasche Entfaltung der Philosophie im sechsten und vor allem im fünften Jahrhundert zeigt. [S. V]

Auf Seite VII reicht er noch ein weiteres Prinzip seiner Edition nach:

Was den Dialekt betrifft, habe ich an meine Prinzip festgehalten, die zufällige Überlieferung der einzelnen Schriftsteller getreu wiederzugeben, da sonst eine wissenschaftliche Verwertung der Fragmente zu dialektologischen Zwecken unmöglich wäre.

In der Reihenfolge der vorgestellten Philosophen folgt er, so weit möglich, der historisch gesicherten Reihenfolge der einzelnen Vorsokratiker. Bei jenen, von denen etwas mehr vorhanden bzw. bekannt ist, folgt er dann immer demselben Aufbau seiner Vorstellung. Unter (A) finden wir Leben und Lehre, manchmal noch in entsprechende Unterkapitel aufgeteilt. Für das Leben der jeweiligen Philosophen ist sein Hauptgewährsmann – wie könnte es anders sein – Diogenes Laertios. Bei der Lehre wird sehr oft Aristoteles zitiert, dessen Darstellung seiner Vorgänger er offenbar für doxographisch hält, ebenso Theophrast. Alles in der Originalsprache des Referenten. Wo vorhanden folgen (B) die überlieferten und von Diels für echt gehaltenen Fragmente aus den eigentlichen Schriften der Vorsokratiker. Jedes ist einzeln nummeriert, was ein auflagenübergreifendes Zitieren erleichtern sollte. Die Fragmente – und nur diese – hat Diels dann auch übersetzt. Von einigen Philosophen kennt man knapp den Namen – unter anderem aus einer ganzen Liste der Pythagoreer, die Apuleius übermittelt hat, andere haben recht ausführliche Kapitel erhalten.

Trotz der Tatsache, dass er sein Werk Wilhelm Dilthey zueignet, ist Diels in diesem Buch Positivist, wie er im Buche steht. Außer der bei einer Übersetzung natürlich unumgänglichen Interpretationsarbeit (ein Risiko, das insofern minimiert ist, als die Lehrenden und Lernenden ja in jedem Fall das Original vor sich hatten und die Übersetzung verifizieren konnten), verzichtet er aus Prinzip auf jede Form eigener Darstellung und Analyse der einzelnen Systeme.

Spezielle Erwähnung verdient vielleicht noch, dass (zumindest in der ersten Auflage – die späteren kenne ich nicht (die ich mal hatte, habe ich verloren und ich erinnere mich nicht mehr)) – spezielle Erwähnung verdient also der Umstand, dass Diels nach den eigentlichen Vorsokratikern auch noch die Sophisten aufführt, auch wenn sie bereits schon (zum Teil sogar jüngere) Zeitgenossen des Sokrates waren. Dies, weil – so Diels – diese Philosophen ihre Systeme noch unabhängig von Sokrates aufgestellt hatten.

Unter den von Hermann Diels in seinem Vorwort (oben zitiert) dargelegten Bedingungen ist dieses Buch bzw. sein Prinzip nach wie vor brauchbar und empfehlenswert. Natürlich sind unterdessen einige andere Fragmente aufgetaucht, andere hat man wohl auch als unecht identifizieren können. Selbst wenn wir zugeben müssen, dass im Großen und Ganzen unser heutiges Bild der Vorsokratik stark von diesem Werk beeinflusst ist, so ist es doch gerade jeglicher Verzicht auf eigene Interpretation, die anregend wirkt, weil die Lesenden gezwungen sind, sich selber mit der Materie auseinanderzusetzen und ihnen nichts vorgekaut wird. Es ist schade, gibt es etwas in genau diesem Sinne Ausgeführtes nicht mehr auf dem Markt – natürlich mit den aktuellen Erkenntnissen nachgeführt.

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