Paul Gurk: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1

In der Bildmitte der obere Teil eines weißen Kreises, aus dem wie in den Sonnen-Zeichnungen der Kinder eine Art weißer Strahlen in regelmäßigen Abständen herausragen. Darin steht mit schwarzen Großbuchstaben der Name des Autors: PAUL GURK. Rechts außerdem noch – grünlich-bläulich – ein menschenähnliches Gesicht im Profil. Der Ausschnitt aus dem Buchcover zeigt nur Mund und Nase.

Mit diesem Buch kehrt der Hirnkost-Verlag zurück zu den eigentlichen Wurzeln seiner in unregelmäßiger Abfolge erscheinenden Reihe Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction, nämlich zu dem, was die ersten vier Bände*) tatsächlich geliefert haben: Science Fiction. Will sagen: Geschichten von zum Zeitpunkt des Erscheinens nur mit bisher unbekannter Technik oder nur unter Einsatz von ins fast Unermessliche vergrößerter, aber im Kleinen bereits existierender Technik Erreichbarem und deshalb meist in der Zukunft Angesiedeltem. Denen aber folgten zwei Bände Propaganda-Romane**), die in keiner Wissenschaft Neues vorstellten und auch nur um ein paar Monate bzw. Jahre in der Zukunft angesiedelt waren. Ich will damit weder den Zionismus noch den Pazifismus an sich schlecht machen, aber diese Romane sind auch literarisch wenig wert, also keine Schätze – zumindest in meinem Sprachgebrauch nicht.

Tuzub 37 ist hingegen in jeder Hinsicht eine wertvolle Wiederentdeckung. Der Autor (sein Name klingt wie das Pseudonym eines Kabarettisten, er hieß aber wirklich Paul Gurk) gilt als ‚vergessener‘ oder ‚verschollener‘ Schriftsteller. Das hindert ihn nicht daran, seit zehn Jahren über einen Eintrag bei Wikipedia zu verfügen. Tatsächlich war er einen kurzen Wimpernschlag lang sogar recht bekannt. Für sein historisches Drama Thomas Münzer erhielt er 1921 überraschend den Kleist-Preis (der im Folgejahr immerhin einem Bertolt Brecht zugesprochen wurde), und 1924 erhielt er den Romanpreis der im Nationalsozialismus untergegangenen Kölnischen Zeitung, den ihm kein Geringerer als Thomas Mann überreichte. Wikipedia will dann noch von der erfolgreichen Aufführung eines weiteren historischen Dramas wissen (Wallenstein und Ferdinand II.), ohne dies aber weiter zu belegen, um dann weiter zu fahren mit dem Satz: Doch schon kurz danach war er bereits so vergessen, dass er 1930 resigniert feststellte: „Ich bin heute genauso verschollen wie vor 1921.“ (Auch hier: keine Quellenangabe.)

Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1 erschien erstmals 1935 in Berlin. Eine 2017 im arco-Verlag begonnene Werkausgabe, in der dieser Roman ebenfalls erschienen ist, stockt seit 2020 beim dritten Band. Somit sind Roman bzw. Autor keine reinen Wiederentdeckungen, fügen sich aber gut in die Reihe ein – und zumindest meine Wenigkeit kannte Gurk noch nicht.

Der Roman ist meiner Meinung nach äußerst bemerkenswert. Und dies sogar in zweierlei Hinsicht.

Literarisch: In einem am Expressionismus orientierten Stil und unter Verwendung vieler Gestalten und Bilder, die verschiedenen Mythologien entnommen sind, hier nun nahtlos verbaut wurden, stellt Gurk eine dystopische Welt dar, in der Technik alles ist, der Mensch sich nicht nur die Erde damit untertan macht, sondern auch das Meer, die Luft, die höchsten Berge – ja sich selber. Die Menschheit, das sind schon lange die Grauen – Menschen ohne sichtliches Geschlecht und Individualität, die nur nach ihrer Funktion bezeichnet werden. Ziel der Entwicklung ist eine völlige Technisierung selbst des Menschen. Dafür wird im Lauf des Romans mehr und mehr auch die Geschichte eliminiert, die Erinnerung an Vergangenes. Und wenn die Grauen zu Beginn des Roman zwar keine Namen mehr tragen, aber noch eine abgekürzte Bezeichnung ihrer Funktion, gefolgt von einer Zahl, die angibt, als wievielter das vor uns stehende Wesen diese Funktion ausübt, so wird selbst diese Zahl eliminiert. Jeder ist die Nummer 1. Und wenn mehrere Wesen dieselbe Funktion ausüben, trägt jedes davon diese Nummer 1. Folgerichtig – und damit komme ich wieder auf das eigentlich Literarische – kennt der Roman keinen durchgehenden Protagonisten. Vor allem zu Beginn und dann wieder am Schluss stellt Gurk den einen oder anderen mit einer gewissen Individualität auf die Bühne. Wenn wir nun aber beim Lesen glauben, das könnte der Held sein – der, der den Kampf gegen die seelenlosen Technik aufnimmt – geht er leise und ohne Kampf einfach zu Grunde. Das geschieht mehr als einmal. Wenn wir nun darauf spekulieren, dass dafür ein einmaliger, überragend fieser Bösewicht hinter dem Ganzen steckt, werden wir ebenso enttäuscht. Zu Beginn steht hinter der Entwicklung dieser Menschheit zwar noch ein Leitungsgremium aus neun Wesen, die entscheiden, wie weitergefahren werden soll. Diese Menschen werden nach Körperteilen benannt. Doch das erklärte Ziel dieses Gremiums ist es, die Menschheit an einen Punkt zu führen, an dem deren Mechanisierung unumkehrbar geworden ist. (Vor allem das Problem der Reproduktion ist fast unüberwindbar. Denn sogar gegen Ende, wenn die Mechanisierung fast zur Perfektion gelungen ist, „sterben“ diese Menschmaschinen irgendwann an Materialermüdung. Und bis zum Schluss braucht es ein in immer kleiner werdenden Mengen vorhandenes Sekret, das von Zeit zu Zeit über einen Punkt in der Ferse, wo noch Blut fließt, ausgeteilt wird und die Menschmaschinen zur – offenbar sexuellen – Vermehrung verführt.) Wenn das Ziel einer kompletten mechanischen Reproduktion und Unterwerfung aller Natur erreicht ist, will sich dieses Gremium selber auflösen – sprich: umbringen. Tatsächlich tut das der Oberste dieses Gremiums (passend Hirn genannt) schon recht früh im Roman und auch die übrigen acht, die das Ganze noch eine Weile weiter überwachen, folgen ihm, nachdem es endlich gelungen ist, Maschinenmaschinen zu bauen, die sich selber replizieren können. Es gibt viele mythische Anspielungen im Roman, was die Geschichte denn auch über eine klassische technologische Dystopie hinaus hebt. Doch auch diese (Luft, Land, Meer, aber auch Dämonen, die die letzten noch unbezwungenen Berge im Dach der Welt bewohnen) kommen nur sporadisch vor und gehen im Lauf des Romans zu Grunde. Zum Schluss gehen Menschmaschinen und Maschinenmaschinen in einem riesigen Kampf oder Krieg (oder Sexualakt?) allesamt unter. Die Schilderung nun wiederum des Schlachtfeldes mit all seinen (Maschinen-)Leichen erinnert an Schilderungen von Schlachtfeldern, wie wir sie vom Expressionismus kennen – nur dass da eben Maschinenteile herumliegen. Ganz zum Schluss erleben wir mit, wie sich die Erde nach langer Ruhezeit wieder regeneriert, wieder Leben zu tragen beginnt. Was uns Gurk nicht sagt, ist, ob wir hier einer ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ beiwohnen. Ebenfalls offen bleibt, ob wir uns die Vorgänge des Romans als in ferner Vergangenheit geschehen vorstellen müssen oder als zukünftiges Schicksal der aktuellen Menschheit. Poetologisch müsste ersteres der Fall sein, denn nur mit dem Untergang der Grauen und der Runderneuerung der Erde findet ja die wirkliche Auslöschung der Geschichte statt.

Politisch tippe ich allerdings auf letzteres, weil – und damit komme ich auf den zweiten Punkt, in Hinsicht dessen der Roman bemerkenswert ist – weil nämlich (auch wenn Gurk und dieser Roman offenbar unter dem Radar der Nazis durchgeflogen sind) das ganze auch eine rabenschwarze Satire auf den NS-Staat ist. Gurks diesbezügliche Signale sind gar nicht einmal subtil. Wenn zum Beispiel die Techniker vor ihr Leitungsgremium gerufen werden, zucken sie als Gruß mit dem Arm. Riesige, organisierte Volksaufmärsche kommen ebenfalls vor. Auch der Abkürzungsfimmel der Nazis wird in den vielen von den Grauen verwendeten Bezeichnungen ad absurdum geführt. Die verbleibenden nicht-grauen Mächte streiten lieber unter sich selber als gegen die Menschmaschinen (Luft, Wasser, Erde – wohl die linken Parteien der Weimarer Republik symbolisierend) oder empfinden das Ganze nur als lustiges Spiel, bis es zu spät ist (die Dämonen auf den Bergen – ein Sinnbild für Großbritannien?). Last but not least finden wir am Ende der Geschichte unsere Grauen, wie sie beim Versuch, nun auch die letzten Berge auf dem Dach der Welt zu erobern, einen riesigen Turm bauen. Der Turm zum Vorgebirge B37 (die ganze Erde ist in Planquadrate eingeteilt), genannt Tuzub 37 – der Turm als solcher also ist natürlich der zu Babel (Turm zu Babel!), aber seine Bauweise aus riesigen Klötzen verweist wiederum auf den pompösen Stil der Nazi-Architektur.

Es finden sich in diesem Buch noch zwei Kurzgeschichten, die ebenfalls recht interessant sind. Auch sie stellen natürliches Leben einem künstlichen gegenüber.

Einzig das Nachwort von Emil Fadel enttäuscht. Ich vermute, dass es sich um eine Notlösung handelt, weil der bisher für die Nachworte verantwortliche Hans Frey 2024 unerwartet verstorben ist. Fadels Qualifikation bestand wohl vor allem darin, dass er mit Ernst Toller über einen anderen Expressionisten eine Dissertation verfasst hat. Der erste Abschnitt beginnt mit: Man könnte viel schreiben zu Paul Gurk […], um aber nach ein paar Andeutungen, was man denn viel schreiben könnte, im zweiten Abschnitt weiter zu fahren: Worüber ich hier aber stattdessen schreiben möchte, ist eine Besonderheit des Genres Science Fiction – welches diese Reihe ja exklusiv behandelt – und warum Tuzub 37 [im Original kursiv] in diesem Zusammenhang ein so wichtiges Werk ist. Das könnte man sich ja noch gefallen lassen. Aber – abgesehen davon, dass Fadel schon in diesem Zitat unbesehen und undiskutiert einen Begriff (nämlich ‚Genre Science Fiction‘) auf eine Zeit und einen Ort anwendet, an denen es gar noch nicht existierte – Fadel kennt die Materie, über die er schreiben will, gar nicht. Schon der Vergleich mit der Fantasy, wo seiner Meinung nach jeder, der Elfen auftreten lässt, gleich Tolkien kopiert, während Science Fiction mit wenigen Ausnahmen produktive Abwandlungen vorführe, Inspirationen kenne und nicht Kopien verfasse – schon dieser Vergleich zeigt, wie schlecht Fadel die zeitgenössische wie die vor-Tolkien’sche Fantasy kennt. Gerade die Fantasy des 21. Jahrhunderts ist in vollen Zügen dabei, LGBT-Themen zu explorieren, die Tolkien und die früheren keusch links liegen ließen. Aber auch die dann folgende Untersuchung zum Thema des Maschinenmenschen (der Menschmaschine Gurks) in der Science Fiction, zeigt, dass er vor allem die trivialen Filme kennt (Star Trek, Alien) und die bekannteren Autor:innen (ich hatte eine Zeitlang den Verdacht, dass er sich an unserem Blog orientiert hat …) und Kunstmenschen: Mary Shelleys Frankenstein, Gustav Meyrincks Golem, Asimovs Roboter (wo er aber dann wieder den Film erwähnt, der Asimovs diesbezügliche Geschichten völlig verfälscht), Lem, Dick oder Bradbury. Das bringt eingefleischten SF-Lesenden wenig oder nichts – und andere, vermute ich, werden nicht zu Büchern aus einer Reihe mit dem Titel Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction greifen. Schade um die verpasste Gelegenheit, einen ‚Verschollenen‘ einem breiteren Publikum vorzustellen, mehr Informationen zu Gurk, auch welche jenseits von Wikipedia, wären erwünschter gewesen als dieser Schulaufsatz.

Im Moment wird auf der Internetseite des Verlags kein weiteres Buch für die Reihe Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction angekündigt, was auch kein Wunder ist. Der Verlag Hirnkost schrammte letztes Jahr zwei Mal haarscharf an einer Auflösung durch Insolvenz vorbei. (Auch das mag die Qualität des Nachworts beeinflusst haben.)

Hier noch die bibliografischen Angaben:

Paul Gurk: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1. Herausgegeben von Hans Frey † 2024 und Klaus Farin. Berlin: Hirnkost, 2024.


*) Albert Daiber: Die Weltensegler; Bernhard Kellermann: Der Tunnel; Julius von Voß: Ini; Paul Scheerbart: Die große Revolution – unter diesen Namen und Titeln in unserem Blog auffindbar.

**) Theodor Herzl: Altneuland; Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus / Das Irrenhaus – ebenfalls hier abrufbar.

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