Im Gegensatz zu Laozi (Lao-Tse), dem mythischen Gründervater des Daoismus, hat Zhuangzi offenbar wirklich gelebt. Sein persönlicher Name war Zhuāng Zhōu. Er lebte an der Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v.u.Z. und arbeitete zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt und nach eigenen Zeugnissen in der Stadt Meng im Staat Song als Gärtner. Das vorliegende Werk trägt im Chinesischen den gleichen Namen wie sein Autor: Zhuangzi. Es besteht in der mir vorliegenden Ausgabe (s.u.) aus drei Teilen:
- 7 so genannten Inneren Kapiteln
- 15 Äußeren Kapiteln
- und 11 Vermischten Kapiteln
Die heutige Philologie geht davon aus, dass die so genannten Inneren Kapitel die ältesten sind und, mindestens zu einem großen Teil, von Zhuangzi oder seinen ersten Schülern stammen. Durch die unterschiedliche Herkunft in Zeit, Ort und Autor des ganzen Zhuangzi ist es natürlich sehr heterogen und widerspricht sich in Teilen, widerspricht auch schon mal der Autorität des daoistischen Gründertexts, des Tao te king, bzw. in heutiger Umschrift Daodejing. Nirgends zeigt sich das so schön wie in der Darstellung des Konfuzius. Mal ist er ein (allerdings daoistischer!) Weiser, mal dümmer als der Dorftrottel, von dem er noch lernen muss. Mal wird uns letzteres mit dem Holzhammer eingeprägt, mal aber auch mit sehr subtilem ironischem Humor.
Die Grundhaltung des Daoismus, wie sie hier vorgestellt wird, ist, was der Herausgeber und Übersetzer meiner Ausgabe, Viktor Kalinke, Primitivismus nennt. Es ist Zhuangzi zu Gute zu halten, dass er nach seinen eigenen Idealen gelebt hat: Anders als gerade Konfuzius, dem im Text deshalb auch immer wieder Ehrgeiz und Karrieregeilheit (nicht mit diesem Wort allerdings!) vorgeworfen wird, verweigerte Zhuangzi offenbar jeden Ruf an den Hof. Der Daoismus dieses Buchs ist der Ruf des „Retour à la nature!“ Rousseaus – noch extremer allerdings als beim viel späteren Genfer Philosophen. Wenn der Begriff im Deutschen nicht kontaminiert wäre, könnte man sagen, dass Zhuangzi und die übrigen Beiträger des Buchs ein einfaches Leben von der Scholle für das beste halten. Anders gesagt: Einfach und kontemplativ zu leben, ist das Ideal des Ur-Daoismus.
Formal sind die einzelnen Kapitel recht unterschiedlich gehalten. Pseudo-Anekdoten wechseln ab mit Legenden, Märchen oder auch kontemplativ-philosophischen Gesprächen. Wie schwierig es für uns im Westen ist, das alte chinesische Denken zu verstehen, zeigt sich daran, dass wir oft nicht wissen bzw. beim Unterscheiden daran scheitern, ob ein vorliegender Satz nun erkenntnistheoretisch oder ontologisch gemeint ist. Wir finden, was wir ,Naturphilosophie’ nennen können, müssen aber dabei berücksichtigen, dass das im Daoismus nicht den antiken griechischen Versuch meint, das Naturgeschehen mit dem Verstand zu erfassen, sondern im Gegenteil eine Kontemplation des und ein Eins-Werden mit dem Naturgeschehen. Wir finden – immer mit der gerade erwähnten Einschränkung – auch Ansätze einer westlichen Wissenschaftsphilosophie, eines Nachdenkens über den Einfluss der Sprache auf die menschliche Verfassung oder eine Art politischer Philosophie. In Bezug auf letztere wurde übrigens der Daoismus, worauf uns Kalinke in seinem Nachwort hinweist, im alten China keineswegs so pazifistisch verstanden bzw. angewendet, wie wir das gerne hätten. Wenn wir den Text ‚humanistisch‘ nennen, dann nicht im Sinne des Humanismus, wie er in Europa nach dem Mittelalter existierte und auch nicht im Sinne einer mitmenschlich mitleidenden Einstellung zum Homo Sapiens sondern im Sinne einer recht nüchternen und eher pessimistischen Betrachtung der Menschheit.
Überhaupt sind die Hinweise auf dessen westliche Rezeption, die uns Kalinke in seinem Nachwort gibt, mindestens so interessant wie das Zhuangzi selber. Der Text wurde verschiedentlich ins Deutsche übertragen. Der, was Übersetzungen aus dem alten Chinesischen betrifft, omnipräsente Richard Wilhelm lieferte nur das Innere Buch, ließ aber selbst da noch Dinge weg und fügte anderes ein aus den anderen Büchern, ohne philologische Begründung sondern einfach aus einem Bauchgefühl heraus, was echter Zhuangzi sein könnte und was nicht. Er nannte es Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, seine Version ist aber im Grunde genommen rudimentär. Einflussreicher noch als Wilhelms Übersetzung war eine Zeitlang die von Martin Buber. Dieser übersetzte allerdings aus einer bereits existierenden englischsprachigen Version. Selbst mit einem starken Hang zum mystischen Denken ausgestattet, verstärkte Buber die (allerdings auch bereits vorhandenen!) mystischen Teile des Zhuangzi. Gerade aphoristisches Denken mit seinen bewusst stehen gelassenen interpretatorischen Lücken eignet sich ja sehr gut, um eben diese Lücken mit mystischem Gedankengut zu füllen. Es ist Buber zu Gute zu halten, dass auch sprachlich-kulturelle Fallen existieren, deren er sich wohl nicht bewusst war. So ist das Wort ‚Himmel‘, das im Original tatsächlich verwendet wird, in unserer westlichen Kultur bis heute viel stärker (christlich) religiös aufgeladen als es in der alten chinesischen Sprache der Fall war.1) Bubers Übertragung war geistesgeschichtlich nicht unwichtig. Von seiner bewusst wie unbeabsichtigt mit biblischen Anklängen getränkten Version haben sich, wie Kalinke in seinem Nachwort betont, nicht nur Surrealismus und Dekonstruktivismus beeinflussen lassen. Neben Bertolt Brecht und Max Weber finden wir auf der Liste der Beeinflussten (naturgemäß!) auch jene ‚Denker‘, die von Haus aus schon einen starken Hang zum Mystizismus aufweisen: Heidegger, Hesse oder Jung.
Ergo: Das Zhuangzi ist für uns europäisch (christlich) Sozialisierten nicht uninteressant, aber schwer verständlich. Missverständnisse sind vorprogrammiert.
Gelesen habe ich den Text in folgender Ausgabe:
Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit. Vollständige Ausgabe. Aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben von Viktor Kalinke. Ditzingen: Reclam, 2021. (= RUB 14082)
1) So basiert der Titel von Ursula K. Le Guins Science Fiction-Roman The Lathe of Heaven auf einer Übersetzung des Zhuangzi durch einen renommierten Sinologen des 19. Jahrhunderts, James Legge. Was sie erst später erfuhr: „Himmel“ ist hier zwar eine korrekte, oder sagen wir: mögliche, Übersetzung; „Lathe“ (= Töpferscheibe) aber nicht, weil es so etwas zur Zeit der Entstehung des Textes in China noch nicht gab. Der ‚Himmel’ kriegt aber auch bei Le Guin (bzw. bei unserer westlich geprägten Lektüre ihres Romans) eine extrem metaphysische Note, die das Original bei weiten nicht aufweist (und die die deutsche Übersetzung noch verstärkte). (Für allfällig anwesende Sinolog:innen: Im Original lautet die Passage 知止乎其所不能知,至矣。若有不即是者,天鈞敗之。 ). Legge übersetzt: To let understanding stop at what cannot be understood is a high attainment. Those who cannot do it will be destroyed on the lathe of heaven. In meiner deutschen Ausgabe (s.o.) ist die Passage übersetzt mit: Wer aufhört zu wissen, was er nicht wissen kann, ist vollkommen. Wer das nicht vermag, der wird naturgemäß scheitern., mit der Fußnote des Übersetzers: Der gesamte Absatz [= 23.7 – P.H.] spielt mit der Doppelbedeutung von 天 als »Himmel« und »Natur«. Ich bin mir nicht sicher, ob Kalinkes nüchterne Übersetzung den mystischen Charakter der Stelle dann nicht doch ein wenig allzu sehr in den Hintergrund rückt, aber der Text gefällt mir in Kalinkes nüchternen und gut kommentierten Version ausgezeichnet.