Han Kang: The White Book [Weiß]

Buchcover: Links und rechts ein weißer Rahmen, darin eine Schwarz-Weiß-Fotografie eines Säuglingskopfs, der nach links schaut. Über den ganze Kopf ist in weiß eine Art Labyrinth gemalt, aber mit Rundungen statt Ecken, so dass es auch ein Darm sein könnte oder ein kompliziertes Röhrensystem. Der gewählte Ausschnitt aus dem Cover zeigt nur den obersten Teil des Schädels mit feinen Baby-Haaren.

Als 2024 bekannt wurde, dass Han Kang den Nobelpreis für Literatur erhält, war es eine kleine Sensation. Niemand hatte sie offenbar so richtig auf dem Schirm gehabt: zu jung, eine Frau, eine Asiatin, eine Koreanerin. Ein bisschen vergessen gegangen bzw. im deutschen Sprachraum auch praktisch unbekannt war offenbar der Umstand, dass sie bereits 2016 für Die Vegetarierin den internationalen Man Booker Prize erhalten hatte und nur zwei Jahre später, 2018, mit dem vorliegenden Buch abermals auf dessen Short List figurierte. Aber ja: Sie ist eine der jüngsten Nobelpreisträgerinnen der letzten Dezennien, auch wenn sie nicht an den Jugendrekord von Kipling herankommt. (Der übrigens, anders als viele andere viel ältere Herren, den Preis durchaus verdient hatte.)

Es ist ja nicht so, dass ich den Nobelpreis für Literatur prinzipiell boykottiere. Jedes Jahr schaue ich, was die neue Preisträgerin geschrieben hat und ob mich das prinzipiell interessieren könnte. Bei Han Kang habe ich gesehen, dass sich viele ihrer Bücher offenbar mit historischen und zum Teil bis heute unaufgearbeiteten Ereignissen (bis hin zu Massakern) der (süd-)koreanischen Geschichte auseinandersetzen. Um solches zu lesen, hätte ich aber zu wenig historische Kenntnisse gehabt. Dann sah ich das kleine Büchlein, das nun vor mir liegt. Nicht zu groß, thematisch trotzdem schwergewichtig – das passte. Ich habe die englische Übersetzung gelesen und nicht die deutsche, was ganz einfach am Umstand liegt, dass kurz nach Bekanntgabe der Verleihung des Nobelpreises für Literatur alle deutschen Übersetzungen von Han Kang ausverkauft waren.

The White Book (das auf Deutsch einfach Weiß heißt, was auch die wörtliche Übersetzung des koreanischen Titels ist) handelt vom Tod. In verschiedenen knapp gehaltenen Kapiteln (keines umfasst mehr als anderthalb Seiten meiner Taschenbuchausgabe) werden kurze Schlaglichter auf meist alltägliche Ereignisse geworfen. Wir finden eine Ich-Erzählerin, aber keine durchgehende Handlung. Das Buch wird allgemeine als ‚Roman‘ bezeichnet, aber das scheint mir mehr eine Verlegenheitslösung zu sein. Einige der kurzen Kapitel wirken beinahe wie Prosa-Gedichte, aber tatsächlich haben die Kapitel irgendwo und irgendwie immer einen Zusammenhang.

Schon das erste Kapitel beginnt mit einem Tod. Die Ich-Erzählerin berichtet, wie ihre schwangere Mutter, die damals etwas abgelegen in den Bergen wohnte, von Wehen überrascht wurde. Ganz alleine (ihr Mann war auf der Arbeit und das nächste Telefon zwanzig Minuten Fußweg entfernt) brachte sie ihr Kind zur Welt. Es handelte sich um ein Mädchen; aber es war zwei Monate zu früh zur Welt gekommen und starb nach wenigen Stunden.

Der Tod ihrer Schwester taucht dann immer wieder den Erzählungen der Ich-Erzählerin auf. Aber auch andere Wesen sterben, zum Beispiel der Hund eines Nachbarn. Immer wieder stellt Han Kang ganz subtil die Hilflosigkeit der Kreatur gegenüber dem Tod dar.

Das Buch trägt seinen Titel, weil jedes Kapitel ein Objekt oder eine Situation schildern, in der die Farbe Weiß eine Rolle spielt. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie die Bräuche in Korea sind. Aber für Han Kang ist Weiß ganz eindeutig die Farbe des Todes und der Trauer. Es gereicht ihrem hohen Können zur Ehre, dass trotz der Dominanz des Weißen und des Todes ihr Roman nie repetitiv, didaktisch-dozierend oder larmoyant daher kommt. Wir folgen hier ganz natürlich Gedankenschnipseln der Ich-Erzählerin, die trotz allem ihr Leben lebt.

Auch eine Art Doppelgänger-Motiv finden wir. Denn das oben genannte Mädchen wäre das erste Kind gewesen der Mutter. Später sollte dann ein kleiner Knabe folgen, noch früher zur Welt gekommen – so früh, dass er, im Gegensatz zum älteren Schwesterchen, schon gar nicht erst die Augen geöffnet hatte. Die Ich-Erzählerin war im Grunde genommen das dritte Kind. Nun finden wir Passagen, in denen sich die Ich-Erzählerin mit ihrer älteren Schwester unterhält, als ob diese überlebt hätte und nun auch erwachsen wäre. In anderen Passagen übernimmt die Ich-Erzählerin sozusagen den Körper der älteren Schwester und schildert, wie diese das Leben eventuell gesehen hätte. Oder dann überlegt sich die Ich-Erzählerin, was aus ihr und ihrem jüngeren Bruder geworden wäre, wenn die beiden älteren Geschwister überlebt hätten – denn mehr als zwei Kinder waren von Vater und Mutter offenbar nicht geplant.

Wenn ich dann noch hinzufüge, dass wir im Buch ganzseitig reproduzierte Fotografien bzw. Film-Standbilder finden, die organisch zum Roman gehören, und das Buch nur rund 160 großzügig bedruckte Taschenbuch-Seiten dick ist, wird man verstehen, warum ich The White Book gern als Kondensat von einem Roman bezeichnen würde. Ein Kondensat oder Konzentrat allerdings, das zu verdünnen man sich hüten sollte.

Ich werde nichts mehr von ihr lesen, weil ich mir den guten Eindruck, den ich habe, nicht verderben will. Aber alleine dieses Buch hier ist eines Nobelpreises würdig.


Han Kang: The White Book. Translated from the Korean by Deborah Smith. London: Granta, 2024

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