Am Anfang war Die Harzreise. Natürlich nicht am Anfang der Schöpfung von allem, aber am Angang von doch von so einigem. Zunächst einmal war es dieser relativ kurze Text, der Heinrich Heine in Deutschland berühmt machte. Es war zugleich auch der erste literarische Prosatext des jungen Mannes aus Düsseldorf. Zwar hatte er schon vorher Literatur verfasst, aber weder seine dramatischen noch seine lyrischen Erzeugnisse hatten ihm wirklich Aufmerksamkeit verschafft. Auch mit der Harzreise harzte es zunächst (man verzeihe mir das Wortspiel). Ein befreundeter Herausgeber einer literarischen Zeitschrift erklärte sich bereit, den Text bei sich zu veröffentlichen, ließ ihn dann aber offenbar liegen und Heine sitzen. Ein zweiter Anlauf für eine Zeitschriften-Publikation hatte kurze Zeit später Erfolg, aber die Zensur verstümmelte den Text bis zur Unkenntlichkeit. Erst als der ebenfalls mit Heine befreundete Verleger Campe sich zu einer Veröffentlichung der Harzreise als Buch bereit erklärte, änderte sich deren Schicksal. Heine überarbeitete den Text noch einmal. Er fügte vor allem die von der Zensur für die Zeitschriften-Ausgabe gestrichenen Teile wieder ein. So wurde das Buch ein sofortiger Erfolg. Auch als Heine den Text später als ersten Band in seine Reisebilder aufnahm, änderte das nicht. Ja, Campe konnte sogar neben den vier Bänden der Reisebilder diese Harzreise hier noch separat publizieren und beide Versionen verkauften sich. Auch in der Geschichte der Literatur steht dieser Text am Anfang: Heine schuf mit ihr ein neues literarisches Genre: das Reisebild. Das hier war kein trockener Reisebericht und kein Touristenführer (die gab es damals auch schon und Heine hat vor der Harzreise selber einen solchen geschrieben) sondern ein vor allem sprachlich und kompositorisch kunstvoll gestalteter, mit Spannungsbögen versehener Text, der eine ganze Geschichte erzählt.
Einzig die Stadt Göttingen und deren Universität sind Heine bis heute für Die Harzreise gram. Kein Wunder, beginnt doch Heines Reisebild (nach einem einleitenden Gedicht, das schon die Haupthandlung vorweg nimmt bzw. motiviert) mit einem bis dato und auch seither unerhörten Bashing der beiden:
Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität gehört dem Könige von Hannover und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist. […] Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. Sie muß schon sehr lange stehen; denn ich erinnere mich, als ich vor fünf Jahren dort immatrikuliert und bald darauf konsiliiert wurde, hatte sie schon dasselbe graue, altkluge Ansehen und war schon vollständig eingerichtet mit Schnurren, Pudeln, Dissertationen, Teedansants, Wäscherinnen, Kompendien, Taubenbraten, Guelfenorden, Promotionskutschen, Pfeifenköpfen, Hofräten, Justizräten, Relegationsräten, Profaxen und anderen Faxen. Einige behaupten sogar, die Stadt sei zur Zeit der Völkerwanderung erbaut worden, jeder deutsche Stamm habe damals ein ungebundenes Exemplar seiner Mitglieder darin zurückgelassen, und davon stammten all die Vandalen, Friesen, Schwaben, Teutonen, Sachsen, Thüringer usw., die noch heutzutage in Göttingen, hordenweis und geschieden durch Farben der Mützen und der Pfeifenquäste, über die Weenderstraße einherziehen, auf den blutigen Walstätten der Rasenmühle, des Ritschenkrugs und Bovdens sich ewig untereinander herumschlagen, in Sitten und Gebräuchen noch immer wie zur Zeit der Völkerwanderung dahinleben und teils durch ihre Duces, welche Haupthähne heißen, teils durch ihr uraltes Gesetzbuch, welches Komment heißt und in den legibus barbarorum eine Stelle verdient, regiert werden. […] Im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste. Die Namen aller Studenten und aller ordentlichen und unordentlichen Professoren hier herzuzählen, wäre zu weitläuftig; auch sind mir in diesem Augenblick nicht alle Studentennamen im Gedächtnisse, und unter den Professoren sind manche, die noch gar keinen Namen haben. Die Zahl der Göttinger Philister muß sehr groß sein, wie Sand, oder besser gesagt, wie Kot am Meer; wahrlich, wenn ich sie des Morgens, mit ihren schmutzigen Gesichtern und weißen Rechnungen, vor den Pforten des akademischen Gerichtes aufgepflanzt sah, so mochte ich kaum begreifen, wie Gott nur soviel Lumpenpack erschaffen konnte.
Heine ist in seiner Harzreise noch völlig Romantiker. Das romantische Philister-Bashing, das er auf Göttingen und die Universität abfeuert, findet sich ebenso wie später, als der Ich-Erzähler die Stadt verlassen hat, eine lyrisch gehaltene Verehrung der Natur. Wir finden in die Erzählung eingeflochtene Märchen (aus der Sammlung von Jacob und Wilhelm Grimm!), die frühromantische Verehrung Goethes (die sich in der Reise auf den Brocken spiegelt). Zum Schluss, auf den Anfang zurückkommend, wendet sich Heine gegen den trockenen Rationalismus seiner Professoren ebenso wie gegen Kants aufgeklärte Kritik der reinen Vernunft. Dem jungen Heine ist ein Hang zur Mystik nicht abzusprechen.
Dazwischen aber auch wieder Neues, bisher Unerhörtes (bzw. Ungelesenes). Wenn er seine Wanderung auf den Brocken und seinen Aufenthalt dort oben schildert, so ist das gleichzeitig eine der ersten Schilderungen des aufkommenden Massentourismus. Denn Heine ist nicht der einzige, der dorthin wandert, wo Faust seine Walpurgisnacht erlebt hat. Schon auf dem Weg findet er Kollegen aus Göttingen. Oben dann ist eine wahre Völkerwanderung zu Gang. Außer vielen Studenten sind auch andere mehr oder weniger junge Damen und Herren hinauf gewandert. Oben steht ein großes Gasthaus, in dem man auch übernachten kann. Die Abendmahlzeit – an einer Table d’hôte eingenommen, wie damals in Hotels üblich – bietet Heine Gelegenheit, abermals das Philiströse an den anwesenden Gästen und Gästinnen zu demonstrieren. Eine kleine Liebelei des Ich-Erzählers darf dann auch nicht fehlen, auch wenn sie nirgendwo hin führt. Und schon lange, bevor Mark Twain den Sonnenaufgang auf dem Rigi verschlafen hat, schildert Heine genau so geschliffen scharf satirisch, wie die Anwesenden den Sonnenuntergang und am nächsten Morgen auch deren Wiederaufgang ‚genießen‘. (Die schlagenden Verbindungen, allerdings in Heidelberg und nicht in Göttingen, haben bei Mark Twain mehr als eine satirische Glosse bewirkt: Er schildert diesen Brauch mit blankem Entsetzen. Ein Entsetzen, das sich noch bei Jerome K. Jerome finden wird.)
Der Text bricht dann aber nach einer wahrhaft romantischen Liebeserklärung und einer idyllischen Schilderung der Natur um den Brocken ziemlich plötzlich ab. Heine selbst gibt zu, dass er im Grunde genommen Fragment ist. Tatsächlich wissen wir, dass Heine nicht nur den Oberharz durchwandert hat, den er in der Harzreise ausschließlich schildert sonderm auch den Unterharz bis weit nach Thüringen hinein. Es ist diese Reise gewesen, auf der er Goethe in Weimar besucht hat. Entgegen seinem üblichen Temperament war Heine aber offenbar seinem Idol gegenüber schüchtern und linkisch – der Besuch endete für beide Seiten relativ unerfreulich. Vielleicht war dies der Grund, warum Heine seinen Reisebericht abbrach, bevor er darauf hätte zu sprechen kommen müssen.
Die Harzreise ist bis heute einer der beliebtesten Texte Heines. Zu Recht, wie ich finde. Die Mischung aus jugendlicher Unbekümmertheit und bereits vorhandenem hohem literarischen Können macht den Text weitestgehend zu einem großen Genuss.