Was kann man von einer Ästhetik erwarten, die geschrieben wurde von jemand, der von Beruf Theologe und von Berufung Hegelianer ist? Die Frage stellen, heisst zugleich, sie beantworten.
Christian Hermann Weisse stellt eine Ästhetik auf, die dem von Hegel definierten dialektischen Dreischritt von These-Antithese-Synthese zu folgen vorgibt. Diese Vorgehensweise ist für ihn die einzig wissenschaftliche, die einzig logische. (Alleine, dass er bei der Behandlung seiner Künste die Abfolge von Dichtkunst und Musik umgekehrt kennt im Verhältnis zum späteren Vischer, würde m.M.n. schon als Beweis genügen, wie sehr diese Logik und Notwendigkeit Wunschdenken Hegels und der Hegelianer war – wenn denn so ein Beweis überhaupt notwendig wäre.)
Unabhängig von jeder speziellen Kunst gibt es für Weisse den dialektisch-logischen Dreischritt im Fortschritt der Künste. Zuerst finden wir die Schönheit als These. Als ihre Antithese fungiert ein Gemenge von ästhetischen Begriffen: die Erhabenheit, die Hässlichkeit und das Komische. Aufgelöst wird das schliesslich in der Synthese des Ideals. Die Aufführung von drei Begriffen in der Antithese zeigt schon, dass jede dieser grossen drei dialektischen Schritte in sich wiederum in dialektische Unterschritte geteilt ist: Wir gelangen nämlich z.B. durch die These der Erhabenheit zur Antithese der Hässlichkeit, und das wird wiederum in der Synthese des Komischen aufgehoben.
Bei so viel Dialektik könnte es dem Leser schwummrig werden, aber das wirklich Schlimme an Weisse ist, dass er seine Dreischritte nicht wert- bzw. wertungsfrei betrachtet: Die Hässlichkeit ist für ihn nicht notwendige und deshalb neutral zu bewertende Durchgangsstation auf dem Weg von der Erhabenheit zum Komischen – sie ist für ihn negativ konnotiert. (Ebenso wie diese ganze ästhetische Antithese für ihn negativ konnotiert ist: Die Schönheit ist zwar logisch ungenügend, aber doch positiv zu werten, und das Ideale sowieso.) Das Hässliche wird bei Weisse anhand der romantischen Literatur exemplifiziert und beinhaltet so unterschiedliche Autoren wie Zacharias Werner, E. T. A. Hoffmann und Lord Byron – die er alle, alle nicht mag. Im Sektor des Komischen finden wir u.a. Jean Paul – den Weisse als Romancier ebenfalls so gar nicht mag, auch wenn er für die Theorie des Komischen und des Erhabenen fleissig auf dessen Vorschule zurückgreift. Das Ideale schliesslich kennt ebenfalls interne Dreischritte: So, wenn Weisse zeitlich von der Antike über die Romantik zur Moderne voranschreitet – einer Moderne übrigens, die so ‚modern‘ nicht ist. Das Buch erschien 1830, aber es wird wohl niemanden wundern, dass das moderne Ideal – Goethe und Schiller umfasst.)
Der Pferdefuss des Theologen zeigt sich in der Synthese: Das Ideal ist für Weisse identisch mit dem Göttlichen. (Das ist nur konsequent: Dass die letzte Synthese mit dem Weltgeist, und damit mit dem Gott, identifiziert wird, finden wir auch bei Hegel.) Somit erreicht jede Kunst ihre höchste Ausdrucksform, ihr Ideal, gern im sakralen Bereich: die Architektur im Tempel- und Kirchenbau, die bildenden Kunst in der Malerei und dort bei Raffael, die Musik im Oratorium und in der Oper; die Dichtkunst allerdings bleibt zu meiner Verblüffung weltlich und erreicht ihren Höhepunkt im Drama (wo Weisse, nochmals zu meiner Verblüffung, ein paar Mal den Namen Grabbe positiv erwähnt). Aber alles in allem wundert es einen nicht, dass Weisse den guten alten Baumgarten in einem verächtlichen Nebensatz abtut – den Aufklärer Baumgarten, der in seiner eigenen Ästhetik kein einziges Mal den Namen Gottes in die Feder genommen hat…
Es wäre Weisse zu Gute zu halten, dass er durchaus eigene Ideen hat, die weiter zu verfolgen sich wohl lohnen würde. Als erster rein theoretischer Ästhetiker exploriert er explizit die Bedeutung des Begriffs ‚Genius‘. Was bisher dazu geschrieben worden war, wurde immer in Romane verpackt (Heinse, E. T. A. Hoffmann) oder war nur Nebenthema (Jean Paul). Der ‚Genius‘ führt Weisse dann auf Fragen der Sitte, und somit auf Fragen, die eigentlich der Ethik zugehören: platonische Liebe (mit Platon assoziiert, wem sonst?), Freundschaft (Aristoteles zugeordnet) und als Synthese die Geschlechtsliebe. Die Erkenntnis, dass Geschlechtsliebe auch mit Schönheit, und damit mit der Ästhetik zu tun, hat, ist, so weit ich sehe, 1830 durchaus neu. Sie gar an die Spitze der dialektischen Pyramide zu stellen, ist für jene Zeit und für einen Theologen sogar gewagt. (Allerdings zeigen sich auch rasch die Grenzen des biedermeierlichen Theologen: Die Liebesbriefe eines Johannes von Müller wurden zu seiner Zeit recht verschämt nicht der Geschlechtsliebe, sondern der Freundschaft zugeordnet. Statt nun diese Zuordnung in Frage zu stellen, wettert Weisse lieber über den pervertierten Freundschaftsbegriff, der sich darin finde…)
Alles in allem: Eine stur eingehaltene dialektische Vorgehensweise hindert den Autor daran, wirklich interessante und für die Zeit neue Erkenntnisse auch auszuwerten. Und dieselbe Dialektik zwingt den Autor, seine Thesen in einem grauenhaften, gewundenen Stil vorzustellen.